Ein Chronist der türkischen Arbeitsmigration

Mit „Tante Ümmü“ hat Orhan Çalişir ein eigenwilliges Porträt einer resoluten türkischen Seniorin gedreht. Für sein nächstes Projekt über türkische Arbeiterinnen in der Schokoladenfabrik Hachez hat er nun den Bremer Dokumentarfilm-Förderpreis bekommen

Bestimmt selbst, wann gedreht wird: Ümmü Yerlikaya Foto: Orhan Çalişir

Von Wilfried Hippen

Eigentlich wollte Tante Ümmü gar nicht gefilmt werden. Das war ein Problem für Orhan Çalişir, dessen neueste Dokumentation eben „Tante Ümmü“ heißt – ein Porträt der resoluten türkischen Seniorin. Drehtermine sagte sie kurzfristig ab, ihre Wohnung, Kinder und Freunde waren für das Filmteam tabu. Und wenn sie dann wirklich mal vor der Kamera stand, tat sie nicht das, was abgesprochen war. Über die wenigen gedrehten Aufnahmen war Çalişir dann entsprechend niedergeschlagen – bis sich Kolleg*innen das Material ansahen und ihm sagten, da habe er doch seine Geschichte.

Denn die kratzbürstige Sturheit der alten Frau ist es ja, die ihn an ihr so interessiert. Und so thematisierte er im Film die Schwierigkeiten, die sie ihm beim Drehen machte und kommt ihr dadurch dann doch mit der Kamera sehr nah. Die etwa 30 Minuten lange Dokumentation ist nun eine Art Duell zwischen der Protagonistin und dem Porträtisten geworden, in der er etwa erzählt, dass Tante Ümmü ihn nur deswegen auf ihrer Gartenparzelle filmen ließ, weil sie seine Kamerafrau Susanne Hensdiek so gern mochte. Gerade erst ist der Film fertig geworden und Orhan Çalişir hofft, dass einige deutsche und türkische Festivals ihn zeigen werden.

Altersarmut und Emanzipation

Seine Protagonistin Ümmü Yerlikaya kam 1990 nach Deutschland und hat dort als alleinerziehende Putzfrau vier Kinder großgezogen. Heute im Rentenhalter, hat sie noch mehrere Putzjobs und verkauft auf dem Flohmarkt Gemüse aus ihrem kleinen Garten. An ihrem Beispiel erzählt Çalişir von der Altersarmut, aber auch eine Emanzipationsgeschichte, denn Tante Ümmü mag zwar in prekären Verhältnissen leben, aber sie hat auch immer selbstbestimmt gelebt, und lässt sich, wie der Film ja sehr anschaulich zeigt, von niemandem etwas sagen.

Vor zwei Wochen hat Orhan Çalişir für sein nächstes Filmprojekt „Die Frauen von der Schokoladenfabrik“ den 20. Bremer Dokumentarfilm-Förderpreis gewonnen. Auch hier will er von türkischen Frauen erzählen, die in Deutschland gearbeitet haben und dort alt geworden sind.

Denn die Bremer Schokoladenfabrik Hachez warb Anfang der 1970er-Jahre junge Frauen aus der Türkei an, diese bildeten dann viele Jahre lang den Großteil der Arbeiterinnen an den Fließbändern. Die Fabrik wurde vergangenes Jahr stillgelegt. Für Çalişir, der diesen Film schon vor Jahrzehnten machen wollte, ist dies die letzten Gelegenheit, vor dem Abriss mit seinen Protagonistinnen, die inzwischen zwischen 67 und 90 Jahre alt sind, an ihren einstigen Arbeitsplätzen zu drehen.

Spannend ist diese Geschichte für ihn, weil sie für einen Rollentausch steht, von dem kaum erzählt wird. Denn hier waren es die Frauen, die das Geld in Deutschland verdienten, ihre Kinder in der Türkei zurückließen und nach einigen Jahren ihre Familien nachkommen ließen. Für Çalişir soll dieser Film wie auch schon „Tante Ümmü“ eine Hommage an diese Generation von türkischen Migrantinnen sein. Denn zu denen gehörte auch seine eigene Mutter. In Bielefeld arbeitete sie in jener Fabrik, in der die früher berühmten Löffelbiskuits hergestellt wurden.

Çalişirs Familie kam 1969 aus einem Bergdorf an der Schwarzmeerküste nach Deutschland. Der Vater arbeitete in der Stahl­industrie und Çalişir war der erste Sohn in der Familie, der studieren durfte und sollte. Nach dem Studium in Wirtschaftswissenschaften wurde er freier Journalist und arbeitete viele Jahre als Radioreporter für Radio Bremen und die türkische Redaktion des WDR. Eines seiner Radio-Porträts machte er dann vor vielen Jahren über „Tante Ümmü“.

In seiner Journalistenausbildung war einer der Dozenten ein Defa-Dokumentarfilmer, der die Lust in ihm weckte, selbst Filme zu machen. Im Jahr 2001 drehte Çalişir sein Debüt: die knapp einstündige Dokumentation „Weißer Brunnen – Akkuyu“, in der er von den Bewohner*innen eines Dorfs an der türkischen Riviera erzählt, die lange vergeblich dagegen kämpften, dass in ihrer Nachbarschaft das erste türkische Atomkraftwerk gebaut werden sollte. „Ich dokumentiere auch Niederlagen“, sagt Orhan Çalişir dazu heute und bezieht sich dabei auch auf den Film „Zülfü Livaneli – Eine Stimme zwischen Ost und West“, den er 2014 zusammen mit Cengiz Kültür und Dirk Meißner produzierte. Darin porträtiert er den berühmten türkischen Volkssänger, der lange gegen die Politik von Recep Tayyip Erdoğan ankämpfte.

Heimaterdehier und dort

Die etwa 30 Minuten lange Dokumentation ist eine Art Duell zwischen der Protagonistin und dem Porträtisten geworden

Seinen eigenen Stil fand Çalişir bei seinen in Deutschland gedrehten Filmen, in deren Mittelpunkt zuerst Männer und dann auch immer mehr Frauen standen, die aus der Türkei nach Deutschland gekommen waren, um hier zu arbeiten.

In der ebenfalls mit Kültür und Meißner gedrehten Fernsehproduktion „Torf – Wie die türkischen Gastarbeiter nach Lohne kamen“ erzählt er von den Bewohnern eines Dorfes in Anatolien, die von den 1960er-Jahren an in das niedersächsische Lohne umsiedelten, um dort in der Torfproduktion zu arbeiten. Bald lebten mehr Dorfbewohner in Deutschland als in der Türkei. 2012 folgten Çalişir, Meißner und Kültür für ihren Film „Heimaterde“ dem Leichnam eines im Ruhrgebiet gestorbenen Türken zurück in sein Bergdorf am Schwarzen Meer.

Mit dem Fernsehjournalisten Meißner arbeitet Çalişir noch immer. Für das Bremer ­Focke-Museum, das eine Ausstellung zum Thema Arbeitsmigration plant, drehen die beiden zehn kleine Porträtfilme über Türken, die nach Deutschland kamen, um zu arbeiten und die hier alt geworden sind.

Bei dieser Auftragsarbeit ist die Finanzierung gesichert, doch das ist für Çalişir eine Ausnahme. Die meisten seiner Filme hat er unabhängig produziert. Dies bedeutet, dass er mit einem Budget von wenigen Tausend Euros auskommen muss. Von seinem ersten Film an wurde er vor allem vom Bremer Filmbüro gefördert, das etwa 5.000 Euro für „Tante Ümmü“ bereitstellte. Als Filme, die kein kommerzielles Potenzial haben und auch nicht im Fernsehen gesendet werden, können sie nur aus den kleinen Töpfen dieser kulturellen Filmförderung finanziert werden. Und da auch der 20. Bremer Dokumentarfilm-Förderpreis vom Bremer Filmbüro vergeben wird, ist die Dotierung mit 1.000 Euro eher symbolisch. Doch Çalişir ist es gewohnt, seine zärtlichen, klugen und politisch wichtigen Filme für wenig Geld zu machen.

„Tante Ümmü“, R: Orhan Çalışır, D, 2020, 33 min, Deutsch/Türkisch