Streit über die Viertagewoche: Abschied vom Dogma

Die IG Metall schlägt eine Viertagewoche vor, auch ohne vollen Lohnausgleich. Hilft das gegen eine nicht nur coronabedingte Absatzkrise?

Ein Schiffbauer arbeitet mit einem Schweißgerät auf einer Werft

Ist die Krise mit einer Viertagewoche überwindbar? Die IG Metall hat sich dieser Idee geöffnet Foto: Jens Büttner/dpa

„Schafft Zustände, worin jeder herangereifte Mann ein Weib nehmen, eine durch Arbeit gesicherte Familie gründen kann!“ Mit viel Pathos formulierte 1866 die deutsche Abteilung der Internationalen Arbeiterassoziation ihr zentrales Ziel: Der Verdienst des männlichen Proletariers sollte ausreichen, um Frau und Kinder allein zu ernähren. Dieses längst antiquierte Denken hielt sich in den Köpfen von Gewerkschaftsfunktionären länger als in anderen sozialen Milieus. Die IG Metall, mit zwei Millionen Mitgliedern größter Verband im DGB, verfolgt erst in jüngster Zeit eine Tarifpolitik, in der „Familienväter“ als Versorger nicht mehr das Maß aller Dinge sind. Wo Frauen ihr eigenes Geld verdienen, muss der Lohn des Arbeiters kein halbes Dutzend hungrige Mäuler stopfen.

Das eröffnet Räume für neue Zeitkonzepte. IGM-Chef Jörg Hofmann pries Mitte August verkürzte Arbeitszeiten als besten Weg, um den Strukturwandel vor allem in der Autoindustrie zu bewältigen. Aufsehen erregte er auch, weil er eine Viertagewoche anregte. Damit hat der VW-Konzern schon vor über zwei Jahrzehnten gute Erfahren gemacht – und Massenentlassungen verhindert. „Zwischen Volks- und Kinderwagen“: Unter diesem griffigen Titel erschien 1998 eine Studie, welche die „Auswirkungen der 28,8-Stunden-Woche auf die familiale Lebensführung“ untersuchte. Kerstin Jürgens und Karsten Reinecke befragten die Belegschaften mehrerer VW-Werke.

Entgegen den Klischees, die über einen (empirisch nie belegten) Anstieg der Schwarzarbeit spekulierten, betonten Jürgens und Reinecke die positiven Effekte reduzierter Arbeitszeiten für die Gesundheit der Beschäftigten und die leichtere Vereinbarkeit von Beruf und Privatem. Für die im ländlichen Niedersachsen oft von weither anreisenden Pendler machte es zum Beispiel einen großen Unterschied, dass sie nicht mehr um vier Uhr morgens aufstehen mussten, um zum Beginn der Frühschicht an ihrem Arbeitsplatz zu sein. Auch am Nachmittag ergaben sich zusätzliche Zeitfenster, die manche dazu nutzten, etwas mit ihren Kindern zu unternehmen oder Sport zu treiben.

Grundlage dafür ist allerdings die Zeitverkürzung auf täglicher Basis, in Richtung eines Sechsstundentags. Wegen der langen Anfahrtswege bevorzugten viele bei VW Blocklösungen. Doch auch das Prinzip „Vier Tage Schicht, drei Tage Freizeit“, wie in Emden lange praktiziert, werteten die Befragten als gewonnene Lebensqualität.

Das Prinzip „Vier Tage Schicht, drei Tage Freizeit“ werteten die Befragten einer Studie zufolge als gewonnene Lebensqualität

Entwickelt hatte das Modell der damalige VW-Manager Peter Hartz. Der spätere Architekt der Agenda 2010 genoss zu jener Zeit in Gewerkschaftskreisen noch einen guten Ruf. Hartz einigte sich mit den im Konzern mächtigen Betriebsräten auf eine befristete 28,8-Stunden-Woche. Zur Akzeptanz des Kompromisses trug bei, dass die Monatslöhne trotz geringerer Stundenzahl kaum sanken.

Drohender Personalabbau

Als einige Jahre später die Autokonjunktur ansprang und VW zum erfolgreichen Exporteur vor allem nach China avancierte, wurden die Arbeitszeiten schrittweise wieder der üblichen Norm angepasst. Das innovative Zeitkonzept geriet weitgehend in Vergessenheit. Die IG Metall, in den 1980er Jahren noch Pionier in Sachen 35-Stunden-Woche, konzentrierte sich wie zuvor auf ein Plus bei den Löhnen. Das „Pforzheimer Abkommen“ von 2004 ermöglichte es den Betrieben sogar, die Arbeitszeit zu verlängern, wenn die Gewerkschaft zustimmt. Erst nach dem Dieselskandal und angesichts des drohenden Personalabbaus durch die Umstellung auf Elektroautos entdeckte die IG Metall die Arbeitszeitpolitik aufs Neue. 2018 setzte sie durch, dass Beschäftigte auf eigenen Wunsch zwei Jahre lang nur 28 Wochenstunden arbeiten können. Zudem dürfen seither Schichtarbeitende, Eltern und pflegende Angehörige ein sogenanntes zusätzliches Tarifentgelt umwandeln in acht freie Tage. Deutlich mehr Menschen als erwartet haben diese Regelungen in Anspruch genommen.

In der derzeitigen massiven Absatzkrise geht die Gewerkschaft einen Schritt weiter. Mit der Viertagewoche „lassen sich Industriejobs halten, statt sie abzuschreiben“, betont Jörg Hofmann. Die IG Metall rückt ab von ihrem Dogma, über kürzere Arbeitszeiten nur bei gleichbleibendem Verdienst zu verhandeln. Nebulös fordert Hofmann einen „gewissen Lohnausgleich, damit es sich die Mitarbeiter leisten können“; eine Detailvorschlag von ihm ist die Steuerfreiheit von Schichtzuschlägen. Er gibt sich zuversichtlich, „dass wir auch diesmal eine Lösung in der Kombination von Zeit und Geld finden“. Die Reaktionen lassen an diesem Optimismus zweifeln. Wirtschaftsnahe Zeitungen wie Handelsblatt oder FAZ kritisierten den IGM-Vorstoß vehement. Die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände stimmte in den Ablehnungschor ebenso ein wie die FDP-Bundestagsfraktion: Kürzere Arbeitszeiten seien „in der jetzigen Krise Gift für viele Unternehmen“.

Fachverband Gesamtmetall verhalten

Dagegen begrüßen Stimmen aus SPD, Linkspartei und den Grünen die Idee. Auch der Fachverband Gesamtmetall hält sich mit kritischen Stellungnahmen zurück, was eine gewisse Verhandlungsbereitschaft signalisiert. Ob es die Viertagewoche in den Forderungskatalog der zum Jahreswechsel beginnenden Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie schafft, hängt wesentlich von der gewerkschaftsinternen Debatte ab. Denn nicht nur auf Unternehmerseite oder bei neoliberalen Politikern stößt das Verkürzen der Arbeitszeit auf Ablehnung. Auch ein Teil der Betriebsräte und Vertrauensleute setzt die Priorität auf mehr Geld.

Mühsam löst sich die IG Metall vom Leitbild des Ernährers. Kürzere Arbeitszeiten für alle, die eine stärkere Beteiligung von Männern an der Sorgearbeit ermöglichen würden, diskutierten lange eher kirchliche und zivilgesellschaftliche Initiativen. Spät beginnen jetzt auch die Gewerkschaften umzudenken. Ein geschlechtergerechter Normalstandard von 30 oder noch weniger Wochenstunden aber bleibt Utopie. 

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