Wo die Kunst wächst

In Zeiten der Pandemie kommt dem Kunstverein Langenhagen sein kleiner Garten zupass: Dort arbeitet Alex McNamee nun mit gelenktem Wachstum und natürlichem Verfall. Drinnen wird derweil – erstmals in Deutschland – Philippe Van Snick gezeigt: eine Kunst, gesund misstrauisch gegenüber allen modernen Abstraktions-Dogmen

Produktiver Faktor Zeit: Alex Mc­Namees Outdoor- Installationen verändern sich mit dem Wachsen und Welken Foto: Bettina Maria Brosowsky

Von Bettina Maria Brosowsky

Auch Kunstvereine haben unter der verordneten Schließung zur Coronaprävention zu leiden gehabt. Im Zuge der Lockerung müssen viele davon, wegen kleiner Räumlichkeiten, ein strenges Einlassregime praktizieren, dazu etwa auch zeitlich fließende Formen für ihre Ausstellungseröffnungen entwickeln. Glücklich, wem da ein Garten oder auch nur eine Freifläche zur Verfügung steht – insofern geht es dem Kunstverein Langenhagen gut: Er teilt sich mit einer benachbarten Musikschule ein schönes Terrain mit einer Rasenfläche und drei alten, wuchtigen Bäumen.

Intensiv aktiviert wurde dieser Garten erstmals 2018 für das Sommerferienprogramm „Freiraum für Gedanken und Bauwerke“ als experimenteller Bauspielplatz für Kinder. Jetzt hat Kunstvereinsdirektorin Noor Mertens die kanadisch-britische Künstlerin Alex McNamee eingeladen, dort eine ortsspezifische und dauerhafte Installation zu realisieren.

McNamee, 1990 in Oxford geboren, hat in London Kunst studiert und an der Oxford Brookes University mit Auszeichnung diplomiert. Das künstlerische Material der inzwischen wieder in London Lebenden sind Sand, Erde, Wasser, organisch anmutendes Textil, einzelne Pflanzen oder auch mal ein Becher voller Larven. Sie kombiniert das alles mit Betonelementen, konstruktiven Unterbauten und bildgebenden Monitoren zu sozusagen artifiziellen Landschaften.

Erde und Gehölz

In Langenhagen hat sie nun ganz elementar mit lebendigen jungen Bäumen und Erdformationen gearbeitet. Aber auch denen verlangt sie sehr viel Kunstfertiges ab: Für vier kleine Gehölze hat McNamee die alte Kulturform des Spaliers reanimiert, die sich im 16. Jahrhundert in Frankreich herausbildete. Junge, noch biegsame Obstgehölze wurden dafür in ein Lattengerüst an der Hauswand oder eine freistehende Palisade gebunden, Zweige unter anderem in lange, horizontale Wuchsformen umgelenkt; „Trainiert“ hieß das in freier Übersetzung des englischen Fachterminus. Was zu Beginn des Wachstums als unnatürlich und gewalttätig gegenüber der Pflanze empfunden werden mag, entwickelt mit der Zeit ein harmonisches, pittoreskes Erscheinungsbild, die vegetabilen Wachstumsenergien scheinen geradezu mit Freude ihre neuen Wege anzunehmen.

Zugegeben: Im Langenhagener Garten wirken die vier Solitäre – unter anderem eine schief aus einem Erdaufwurf schießende Quitte und zwei fast bis zum Boden zurückgebundene Obstgehölze – befremdlich; zumal ihre strukturgebenden Partner Eisenstäbe in bizarrer Form sind. Passant:innen, die ihre Hunde ausführten, hätten sich dann auch durchaus konsterniert geäußert, erzählt McNamee der taz. Ob nicht aber nicht die Kunst das Medium sei – und ein Kunstverein der Ort –, irritierende Frage zu stellen, Konflikte zu diskutieren, wirft Hausherrin Mertens ein. Immerhin: Das beigezogene Grünflächenamt zeigte sich sehr aufgeschlossen.

McNamee hat sich zudem britischer und lokaler Expertise in der Baumkultur versichert. Und gern gibt sie jetzt alles aus den Händen: Die Gehölze sollen sprießen, das Eisen wird korrodieren; unter einem aufgebockten Stück Rasen soll Neues aufkeimen, ein Erdaushub sich mit Wasser füllen. Der Faktor Zeit ist für diese Kunst eine produktive Kraft.

Angenehm unverkopft: Philipe Van Snick setzt auf Raum bildung durch Farbe Foto: Foto : Andre Germar

Komplexe Zahlen- und Farbsysteme

Zyklische Zeitverläufe, der Dualismus von Tag und Nacht sind wiederum zentrale Bezugspunkte im Werk des Belgiers Philippe Van Snick (1946–2019), dem der Kunstverein in den Innenräumen eine konzentrierte Einzelausstellung widmet – die erste in Deutschland. Aber auch für synästhetische Qualitäten etwa der Farbe entsann Van Snick seit den 1970er-Jahren komplexe Systeme mit Formen und Zahlen. Immaterielle Primärfarben, also Gelb, Rot und Blau, die Sekundärfarben Orange, Violett und Grün sowie Schwarz und Weiß bezifferte er von 0 bis 7, den Materialtönen Gold und Silber ordnete er 8 und 9 zu. Später kam als zusätzliche Farbe ein helles Blau hinzu, es steht für den Tag im Zyklus, Schwarz ist sein Antagonist. 1984 fasste er für die Berliner „Kunst-Werke“ deren Eingangstor in diese Farben, ein schwarz-weißes Farbschema im Durchgang sollte folgen.

Wer in der Ausstellung nun konzeptionell verkopft-trockene Artefakte erwartet, wird angenehm überrascht: Van Snick setzte seine Farben etwa großflächig zur Raumbildung ein, nahm dazu weitere, nun tertiäre Mischfarben in den Kanon. Manche Farbkombination erinnern an Le Corbusier, der in seiner Theorie des „Rectangle élastique“ den Farben die Kraft zumaß, Wände zu überwinden und völlig neue Räume zu schaffen.

Van Snick konterkarierte zudem alles mit organischer Leichtigkeit, er studierte vegetabile Formen an exotischen Pflanzen in seinem Stadtgarten in Brüssel, legte plastische Werke an, etwa Schalen voll nachempfundener, bearbeiteter Blätter. Auf Reisen besuchte er botanische Gärten, wie seine langjährige Partnerin Marijke de Keukeleire erzählt: Er skizzierte, fotografierte und sammelte Gedanken, um sie in Belgien umzusetzen. Dieses fluide Agieren zwischen Zeiten und Medien, das Arbeiten mit einem eigenen, wohl lustvoll und eher beiläufig angelegten Archiv sowie ein gesundes Misstrauen gegenüber einer uninspirierten Abstraktion als Dogma der Moderne: All das lässt einen – im Langenhagener Ausstellungsraum durch ein Holzgestell vertretenen – Künstler erahnen, der bei aller intellektuellen Selbstdisziplinierung eine ungezwungene, erkenntnisoffene Praxis pflegte.

Alex McNamee: „An der Schwelle der Krümmung“, zeitlich unbegrenzter Prozess; Philippe Van Snick: „Territoire de Voyage“, bis 25. 10; beides Kunstverein Langenhagen