Klimapolitik im Lokalen: Die Straße als Reallabor

Wie ein friedliches und klimafreundliches Zusammenleben aussehen kann, wird beim „Tag des guten Lebens“ in drei Berliner Kiezen erprobt.

Das gute Leben... im Kaskelkiez in Lichtenberg Foto: Jennifer Hansen

BERLIN taz | Ob der Gesellschaft ein radikaler Wandel bevorsteht, diese Frage stellt sich heute nicht mehr. Es geht nur noch um das Wie: by design or by disaster. Wenn wir den Wandel selbst gestalten wollen, dann ist der Weg das eigentliche Ziel. Wie unsere Gesellschaft mit der eigenen ökologischen und gesellschaftlichen Umwelt umgeht, das hat viel mit den sozialen und kulturellen Verhältnissen innerhalb der Gesellschaft selbst zu tun.

Der „Tag des guten Lebens“ ist der Katalysator für eine Transformation, die eine Umwandlung der sozialen Beziehungen und der Herrschaftsverhältnisse aus dem Lokalen heraus voraussetzt. Wie würden unsere Kieze aussehen, wenn sie von den ­Be­woh­ner*innen als Gemeingut selbstverwaltet und nach ­eigenen Entwürfen des guten Lebens umgestaltet werden könnten? Weil wir diese Möglichkeit nicht das ganze Jahr lang haben, beginnen wir mit einem Tag, dem „Tag des guten Lebens“.

Vor rund drei Jahren fand sich im Brüsseler Kiez in Wedding eine Gruppe Menschen zusammen, die diese Idee umsetzen wollten. Zwei weitere Kieze in Lichtenberg und Neukölln folgten. Hinter dem Prozess hat sich ein Bündnis von 50 Organisationen mit Akteuren aus Umwelt, Kultur, lokalem Gewerbe und Sozialem formiert, das vom Verein Berlin 21 formell getragen wird und von RENN.mitte unterstützt wurde.

Im Dezember 2019 stimmte das Berliner Abgeordnetenhaus einer zweijährigen Finanzierung des Reallabors zu, die jetzt über die Bezirksämter realisiert wird. Aufgrund der Coronakrise musste der erste „Tag des guten Lebens“ in Berlin zwar ausfallen, dennoch geht die Arbeit in den Kiezen weiter. Zum Beispiel gibt es am 25. September sowie am 2. Oktober zwei „Wohnzimmer der Nachbarschaft“ auf der dann autofreien Antwerpener Straße im Wedding. In „Online-Talks“ berichten Praktiker, wie man die Gestaltung des eigenen Kiezes in die Hand nehmen kann.

Lena Horlemann ist Projektkoordinatorin des „Tag des guten Lebens“ bei Berlin 21 e. V.

Davide Brocchi ist Soziologe und Initiator des Tags des guten Lebens in Köln und Berlin.

Am 25. September und 2. Oktober verwandelt sich die Antwerpener Straße in Wedding in das „Wohnzimmer der Nachbarschaft“ für Groß und Klein. Von 14 bis 18 Uhr wird präsentiert, diskutiert, getauscht, gespielt, kurzum: die autofreie Straße kreativ genutzt.

Infos: tagdesgutenlebens.berlin

Vorbild Köln: selbstbestimmte Nachbarschaft

Zu oft bleiben die Mobilitäts- und Klimawende, die Förderung einer gelebten Demokratie, der Toleranz und des Zusammenhalts im Stadium einer verbalen Debatte hängen. Solche Diskurse werden nebeneinander geführt, oft in einer Nische oder gar Blase, wobei diese Parzellierung der Transformation keinen großen Schub liefern kann. Der Transformationsansatz hinter dem „Tag des guten Lebens“ verbindet viele Diskurse und Ziele, indem sie den Kiez zum Reallabor macht.

In Köln, wo dieser Tag seit 2013 jährlich in wechselnden Quartieren stattfindet, betrifft dies jeweils 15.000 bis 35.000 Be­wohner*innen, die dann das eigene „Veedel“ aus einer ganz anderen Perspektive erleben. Sie machen selbst die Erfahrung, dass große Freiflächen viel sinnvoller und kreativer genutzt werden können, als nicht genutzte Fahrzeuge darauf zu parken.

Die Nachbarschaft erlebt diesen enormen Eingriff nicht als Fremdbestimmung, sondern als einen Beitrag zur Selbstbestimmung, vorausgesetzt, der partizipative und demokratische Prozess im Kiez beginnt lange im Voraus und wird sorgfältig gefördert, zum Beispiel durch regelmäßige Nachbarschaftstreffen, Arbeitsgruppen oder gemeinsame Kunstaktio­nen. Idealerweise bestimmt jede Nachbarschaft, was auf der eigenen Straße am „Tag des guten Lebens“ passiert. Genau dabei macht die Bewohnerschaft die Erfahrung, dass schon im engen Raum ganz unterschiedliche Vorstellungen vom guten Leben herrschen: Kinder wollen spielen, die Jugend tanzen und die Älteren die Ruhe genießen. Manche wollen freie Fahrt für das Rad, andere lieber gemeinsam essen.

Wie kommt man zu einer gemeinsamen Vorstellung, die die Vielfalt zur Geltung kommen lässt statt unterdrückt? Wie ist die Nachbarschaft als weltoffene Wohngemeinschaft möglich? Sicher braucht sie unentgeltliche Rituale, genau wie in jeder Familie und jedem Freundeskreis. Am „Tag des guten Lebens“ sind das Verkaufen und Kaufen im öffentlichen Raum untersagt, nur Teilen und Schenken sind erlaubt.

Es braucht eine breite Bewegung

Wenn die Krise der Demokratie und die Finanzkrise Ausdruck einer Vertrauenskrise sind, dann stellt sich die Frage, wo das Vertrauen, das eine gesunde Demokratie und eine faire Ökonomie benötigen, wieder entstehen kann. Die Antwort lautet: im Lokalen, dort wo Menschen persönlich miteinander interagieren und sich mit überschaubaren Räumen als Gemeingut identifizieren können.

Ohne die Zustimmung der politischen und administrativen Institutionen kann jedoch kein echter Freiraum für die partizipierte Transformation entstehen. Dafür ist ein paralleler Prozess notwendig, der zur nötigen public citizen partnership führt. Es braucht eine breite, bunte Bewegung hinter der Initiative, die für die nötige Augenhöhe mit der Verwaltung sorgt, damit das gute Leben und die Transformation in den Städten nach und nach gemeinsam erreicht werden.

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