Zuflucht im Kiosk

Seit 25 Jahren hat Orhan Aras den „Euro-Kiosk“ direkt an der deutsch-niederländischen Grenze. Der Laden ist sein Zweit-Zuhause, Sozialstation und Treffpunkt für Einsame

Orhan Aras vor seinem Kiosk, auf den Schultern ein Enkel

Von Ann Esswein
(Text) und Felie Zernack (Fotos)

Aufgewachsen ist Orhan Aras in einem Dorf in Anatolien. Später ging er für die Gerechtigkeit in Istanbul auf die Straße und kam dafür ins Gefängnis. Wieder draußen, flüchtete er nach Deutschland. Heute lebt er seine Idee von einem menschlichen Miteinander mit seinen Kioskgästen in Aachen.

Draußen: Autos rauschen über die Straße, die Deutschland mit den Niederlanden verbindet. Auf der einen Seite: Aachen. 50 Meter weiter: Vaals. Links von der Straße steht Orhan Aras’ Haus, zweistöckig, mit Rosen im Vorgarten. Es ist das letzte vor der Grenze. Rechts davon liegt der „Euro-Kiosk“, sein Arbeitsplatz, auch Zweit-Zuhause.

Vor dem Euro-Kiosk: Zehn Uhr morgens. Mit einem Gartenschlauch spritzt Orhan Aras die Sitzbänke ab. Die erste Kundschaft trudelt ein. Bierflaschen werden aufgemacht und Zigarettenschachteln auf den Holztisch gelegt. Drei Männer sitzen auf der Bank, beobachten die Straße, folgen, als wäre es eine einstudierte Choreografie, gleichzeitig mit den Augen und dem Kopf den vorbeifahrenden Fahrzeugen: „Das is doch ne Kawasaki“ – „Nee, ne Peugeot.“ Ein Handwerker steigt vom Roller und grüßt. Mittagspause. Jetzt gebe es Thunfischpizza mit Erdbeeren, sagt er. „Ja wirklich, mit Erdbeeren?“ Als er mit dem Rollerschlüssel in der Hand weghinkt, sagt einer der Männer in die Runde: „Der wird auch immer weniger.“ Ein normaler Morgen in Aras’ Alltag.

Der Mann: Orhan Aras, 58, mit graumeliertem Bart und breitem Rücken, wuchtet noch schnell ein paar Bierkästen vor den Kiosk. Der Laden gehört ihm seit 1995. Aras ist hier sein eigener Chef. Ein ewiger Sozialist, sagt er selbst. Auch Sozialarbeiter, sagen seine Gäste. Sein Sohn übernimmt kurz den Laden. Aras wechselt seine Kleidung fürs Foto, stopft ein Jack-Wolfskin-T-Shirt in die Hose. Eine metallene Gürtelschnalle daran. Weniger als zehn Schritte sind es zu seinem Wohnhaus.

Drinnen: „Ein Arzthaus“, sagt er. Das Gartentor quietscht. Neun Monate habe es gedauert, bis sie den Kredit bekamen. Er läuft vorbei an einem Fuhrpark voller bunter Fahrräder. Im Garten reihen sich eine Schaukel und zwei Rutschen um einen Feigenbaum. Seit vier Jahren wohnt Aras hier mit seiner Frau, drei Kindern und vier Enkelkindern.

Ewiger Sozialist: Aras setzt sich auf eine Bank. Gleiches Modell wie das vor seinem Laden. Daneben ein eingepackter Langnese-Schirm und ein Heizpilz. Was man über sein Leben wissen müsse, möchte er gleich klarstellen. Zwei Dinge könne er nicht dulden: Rassismus und ordinäre Unterhaltungen, sagt er mit der Zigarettenpackung in der Hand: „Kippe?“

Helle Grenzposten: Er wuchs im „letzten Ort der Türkei“ auf. Ost-Anatolien. Teilte sich ein Zimmer mit sechs Geschwistern. Die Winter waren kurz und heftig: „Wir waren arme Leute, aber glücklich.“ Er erinnert sich an den Grenzstreifen, dahinter die Sowjetunion, der vermeintliche Feind. Der Posten war Tag und Nacht beleuchtet, während sie keinen Strom hatten. „Warum können wir nicht auch da hin?“, war eine der Fragen, die Aras seinem Vater stellte, der ihm jede Frage beantwortete. Nie habe sein Vater gesagt, dass die Menschen schlecht sind. Aras schnippt die Asche ab. Schon als Grundschüler habe er Zeitungen und Bücher gelesen. Über die Geschichte der Juden. Was er nicht fassen konnte: wie einfach es ist, jemanden zum Feind zu machen, und wozu Menschen bereit sind.

Der Talisman gegen den bösen Blick

Politische Unruhe: Sein Bruder studierte in Istanbul. Er kam mit. „Da war die politische Situation nicht gut.“ Aras reibt sich die Augen. Als das Militär putschte, war er 18. Er wurde inhaftiert, weil er sich etwas wünschte, das für ihn plausibel klang: Wohlstand für alle, gerechtes Zusammenleben, vernünftiges Wohnen. In den Worten politischer Gegner: Sozialismus. „Wir haben nichts falsch gemacht.“ Trotzdem kommt er dafür ins Gefängnis, wird gefoltert: „Dann war ich körperlich kaputt“, erzählt er nach vorne gebeugt, seine Handflächen ruhen auf den Knien. Was geholfen habe in dieser Zeit im Gefängnis: „Lesen und Unterhalten.“

Flucht nach Deutschland: Aras läuft über den Garten, vorbei an einem Plastikbeil. Links neben der Eingangstür: Kartoffeln. Seine Frau hat an den Gartenzaun gegenüber einen Talisman gehängt. Er soll böse Blicke abwenden. Aras verlagert das Gewicht von einem auf das andere Bein. Es würde ihm immer noch wehtun, wenn sein Nachbar ihn einen Ausländer nennen würde. 1986 floh er nach Deutschland. „Ich konnte nicht mehr zurück“, sagt Aras über seinen Heimatort.

Das andere Zuhause: Die Ampel tickt. Aras überquert die Straße. Vor dem Laden sitzt sein Sohn auf einem Hochstuhl neben einer brummenden Langnese-Eistruhe. An einem Tisch trinken ein paar Männer Kaffee aus Pappbechern. Aras grüßt jeden mit Handschlag. Nur kurz vorbeischauen, ob alles in Ordnung ist. Seit 25 Jahren führt er den Laden, der heute gegenüber seinem Wohnhaus liegt.

Der Laden: Die Gäste können immer mit ihren Sorgen zu ihm kommen. „Wenn ich sehe, dass jemand traurig ist, das ist meine Aufgabe, das ist, was wir tun müssen“, er wischt sich den Schweiß mit dem Handrücken von der Stirn. Einsamer seien die Menschen geworden. Ungesund werde es aber, wenn sie einem nicht mehr in die Augen schauen könnten: „Die suchen nur Nähe.“ Und die Nähe gibt es in seinem Kiosk seit 1995 so selbstverständlich wie Bier und Kaffee.

Sozialstation Kiosk: Man könne Menschen nur verstehen, wenn man sie nicht als Gewinnobjekt sehe und sich frage, was bringen sie mir? Warum Aras den Laden gekauft hatte: „Ich wollte immer mit Menschen zu tun haben, potenzielle Gefühle unter Menschen bringen.“ Sein Feuerzeug knistert, als er sich die nächste Kippe ansteckt. Ein anderer Grund: weil er nicht mehr konnte.

Schwerer Start: Als er nach Deutschland kam, habe er nur zehn Prozent Deutsch gesprochen und zwanzig Prozent verstanden. Mit dem Schwager fuhr er nachts Brot aus: 16 Stunden, 3.000 Brote jede Nacht, sieben Jahre lang. 24 Jahre war er alt, „dann kamen die Kinder“. Sie wohnten auf 55 Quadratmeter: „Eine heftige Zeit“, sagt Aras, zurück im Garten auf einer Bank im Schatten. Die Enkel spielen im Hintergrund.

Sein eigentliches Zuhause liegt dem Kiosk gegenüber

Die Kinder: Der älteste Sohn war hyperaktiv. Jeden Tag mussten sie mit ihm in den Park gehen. In der Schule kam er nicht klar. Keine Therapie half. Erst als Aras ihn beim Ringen anmeldete. Heute tritt er bei der Europameisterschaft an. Sein Sohn und seine Tochter haben eine Postbank-Filiale. „Ich habe den Kindern alle Fähigkeiten gegeben, die ein Vater geben kann: Hilfsbereitschaft, Meinungsstärke, die Fähigkeit, Gier unter Kontrolle zu bringen“, zählt Aras an einer Hand auf. Und noch etwas: „Ich will eine Brücke sein zwischen Menschen und Kulturen.“ Ein Deutschland ohne mehrere Kulturen wäre nicht „schmackhaft“.

Konfrontiert mit Hass: Aras lebt länger in Deutschland als an seinem Geburtsort, aber er fühle sich immer noch anders behandelt. Einmal habe er bei der Polizei angerufen und gesagt: „Ihr müsst auf die Rechtsradikalen achten.“ Einen der Getöteten der NSU-Morde hätte er selbst gekannt. Aras lehnt sich gegen die Lehne und zieht an seiner Zigarette, die Augen zusammengekniffen: „Wie kann das sein? Du gehst in einen Laden, schaust ihm in die Augen und tötest ihn?“ Vor drei Monaten schlug er die Zeitung auf und las über den Anschlag von Hanau. Er schüttelt den Kopf. Man könne nur dumme und gierige Menschen aufeinander hetzen, sagt er.

Ende der Freundschaft: Er habe da auch einen Kunden, der plötzlich rechtsradikale Sachen auf Facebook postete. „Was machst du da?“, habe er ihn gefragt. Er kannte ihn seit 25 Jahren, er hatte seine Kinder aufwachsen sehen. „Du gehst in die falsche Richtung“, habe er ihm gesagt und ihn aus dem Laden gejagt. Er würde nie auf die Idee kommen, ein Volk schlechtzureden. Das habe er von seinem Vater, und so gebe er es auch seinen eigenen Kindern und Enkeln weiter.

Lesen gegen Rassismus: „Die Menschen lesen zu wenig“, sagt Aras. Er tut es täglich: Süddeutsche Zeitung, taz am Wochenende, eine türkische Zeitung. Niemals elektronische Medien: „Das ist Blödsinn.“ Dabei nehme man sich keine Ruhe. Eines will er noch loswerden: „Nur lesende Leute können sich Fragen stellen.“ Dann muss er wieder los. Die Kundschaft vor dem Laden wartet.