Das Wie und Warum des Erzählens

Das 20. Internationale Literaturfestival Berlin findet Corona zum Trotz mit so viel körperlicher Präsenz wie möglich statt. Zum Glück, denn viele interessante Gedanken tun sich oft nur zufällig auf

Cristina Morales unterhält sich mit ihrem Kollegen Pajtim Statovci Foto: Ali Ghandtschi

Von Susanne Messmer

Das Tollste an Festivals aller Art ist, dass manchmal nicht die ausgesuchten Veranstaltungen die besten sind, sondern die Notlösungen. Zum Beispiel so: Der Bus ist ausgefallen, es ist zu spät geworden für die Lesung des neuen Stars der skandinavischen Literatur, der angeblich mit seinem Debütroman das Schreiben neu erfunden hat. Also geht es zur Lesung der recht unbekannten bulgarischen Poetin, die mangels Übersetzung leider nur in ihrer Muttersprache aus ihren komplexen Gedichten vortragen kann. Oder so: Die wichtige Diskussionsveranstaltung zum Thema, über das gerade alle reden, ist zu voll. Also weiter zum Fachgespräch über die neue Biografie eines vergessenen Astronomen im Frankreich der Frühen Neuzeit.

Es sind die Zufälle, in denen man oft das Interessanteste entdecken kann. Jetzt, auf dem 20. Internationalen Literaturfestival Berlin, das noch bis zum 19. September läuft, kann das auch vorkommen. Man kann sich also beim Erfinder und Leiter des Festivals Ulrich Schreiber gar nicht genug bedanken, dass er sich den schlechten Zeiten zum Trotz dafür entschieden hat, das überbordene Programm trotz einiger Videoschalten und gestreamter Lesungen hauptsächlich live und in echt und mit so viel körperlicher Präsenz wie möglich zu gestalten. Denn auch, wenn die Hygienemaßnahmen wie bei allen Kulturveranstaltungen zur Zeit lästig sind – auch, wenn in einem spärlich besetzten Saal nie die Stimmung aufkommen kann wie in einem vollen: Es ist eine Wohltat, endlich mal wieder nicht zu finden, was man sucht, sondern womit man überhaupt nicht gerechnet hat.

Wie zum Beispiel am Dienstagabend in der feierlichen Kuppelhalle des ehemaligen Krematoriums Wedding mit dem makabren Namen Silent Green (am angestammten Ort, dem Haus der Berliner Festspiele, wird gerade gebaut). In der Reihe „New European Voices“ unterhält sich die 1985 geborene spanische Autorin Cristina Morales mit dem 1990 geborenen finnisch-kosovarischen Autor Pajtim Statovci, beide haben schon mehrere Romane geschrieben, ihr letzter und sein erster, um die es auch an diesem Abend vor allem geht, erscheinen nächstes Jahr auf Deutsch. Beide Bücher haben auf den ersten Blick wenig gemein: Ihres erzählt von vier Frauen mit geistiger Behinderung in einer WG in Barcelona, seines von zwei jungen Männern aus Albanien, die versuchen, in Italien eine neue Heimat zu finden.

Doch bald schält sich heraus, dass es in beiden Büchern nicht nur darum geht, was erzählt wird, sondern auch, wie und warum dies geschieht. Morales berichtet, dass sie sich beispielsweise sehr dafür interessiert, wie sehr sich Sprache von Kontext zu Kontext verändert – und wie selbst noch die sachlichsten medizinischen Diagnosen im richtigen Zusammenhang zu mächtigen Hebeln werden, um Gewalt auszuüben. Darauf erwidert Statovci, wie er in seinem Buch mit Mythen und Legenden gearbeitet hat, die ihm sein Vater erzählt hat, die er aber in dieser Form von keiner anderen Person je gehört hat, weil sich eben Mythen und Legenden von Erzähler zu Erzähler immer weiterentwickeln. In seinem Buch geht es weniger um die Mythen selbst als um deren Funktion. Sein Held erzählt sie sich, um sich selbst Mut zuzusprechen oder Trost zu spenden.

Die Nacht ist lau, der Himmel voller Sterne, es ist herrlich, im Gras vorm Krematorium zu sitzen und sich einen Tick zu lang zu verplaudern, um noch die Pflichtlesung aus der neuesten Great American Novel von Ben Lerner im Haus der Kulturen der Welt zu erreichen. Verflixt, die brandaktuelle Lesung, in der es um toxische Männlichkeit geht, die war ja schon gestern. Und schade, eine Veranstaltung aus der drängenden Reihe „Visionen der Bioökonomie“ gibt es heute auch keine.

Also heißt es wohl, einfach im Krematorium bleiben, immerhin hat Jean-Paul Dubois mit seinem kürzlich auch in Deutschland erschienen Roman „Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise“ den Prix Goncourt, also den wichtigsten Literaturpreis Frankreichs gewonnen. Wie er das geschafft hat? Aus dem Gespräch voller Delays mit dem per Video zugeschalteten Autor erschließt sich das erst mal weniger, eher schon aus der schönen Lesung von Textstellen durch Schauspieler Barnaby Metschurat. Auch in Dubois’ Roman spielt der sogenannte Plot eher eine untergeordnete Rolle. Denn es wird nicht nur die Geschichte eines Hausmeisters mit Gewaltpro­blemen erzählt, der am Ende seines Lebens im Gefängnis landet, sondern auch die eines guten Geistes und Menschenfreundes, der sich nie für Machtspielchen interessiert hat und nun dagegen wehrt, dass sein vermeintlich kleines Leben zerstört wird. Und all das, so erschließt sich während der Lesung eher indirekt, geschieht ganz ohne Spektakel, also auf sensationell leisen Sohlen.

Literatur kann so viel mehr als gute Geschichten erzählen und brisante Fragen aufwerfen. Auf dem Rückweg nach Hause durch die vielleicht letzte Sommernacht des Jahres bleibt viel Zeit, darüber nachzudenken, wie viele Möglichkeiten sie doch hat, dieses andere herzustellen. Und das nach einem einzigen, zufälligen Abend mit sehr unterschiedlichen Veranstaltungen beim Literaturfestival Berlin. Bei einer gezielten Suche oder Zusammenstellung von Lesungen im Netz wäre das nicht passiert.