Die Grünen als Zentrum: Zwei Herzen im Gleichtakt

Anders als in den Medien behauptet, haben die Grünen strategisch derzeit kein Problem. Sie brauchen bloß eines – aus Sicht der Konkurrenz.

Mann und Frau unter einem Regenmschirm

Robert Habeck und Annalena Baerbock in Hamburg Foto: Christian Charisius/dpa

Haben die Grünen ein Problem? Auf diese Frage wird man historisch begründet sagen: Und ob. So was von.

Entsprechend kursieren in der Mediengesellschaft derzeit gleich sechs Hauptprobleme: Die Grünen sind zu wenig radikal und zu mittig, die Grünen sind zu links, die Grünenspitze hat ein strategisches Problem mit Ministerpräsident Kretschmann, die Grünen müssen sich endlich zwischen Annalena Baer­bock und Robert Habeck entscheiden, die Grünen müssen sich zu Grün-Rot-Rot bekennen, sonst ist alles aus. Die Grünen müssen sich gegen Grün-Rot-Rot bekennen, sonst ist alles aus.

Na ja. Ich habe heute meinen Dual-Plattenspieler 1246 in den Keller gebracht, nachdem er jahrelang kaputt herumstand, und ein bisschen so ist es auch in der Mediengesellschaft und in unseren Köpfen: Da steht Zeug, was längst nicht mehr funktioniert, was man aber ungern wegtun will.

Wie im gleichnamigen Fantasyroman taucht aus den „Nebeln von Avalon“ noch das Bild einer Bundesrepublik auf, in der die SPD einen „Kanzlerkandidaten“ nominiert und eine „progressive“ Regierung bilden will. Diese Welt gibt es noch, solange ein paar Menschen an sie glauben, aber gleichzeitig merken zunehmend Leute, dass die alten Antagonismen – angefangen mit progressiv vs. konservativ – nicht mehr helfen zur Analyse und politischen Bearbeitung einer veränderten Gesellschaft, Weltwirtschaft, geopolitischen Lage und vor allem der Klimakrise.

Seit über zwei Jahren werden Frauen, die sich offen gegen rechts positionieren, mit dem Tod bedroht. Absender: „NSU 2.0“. Steckt ein Polizist dahinter? Eine Spurensuche in der taz am wochenende vom 05./06. September. Außerdem: Die Theaterhäuser öffnen wieder – mit strengem Hygienekonzept. Was macht Corona mit der Kunst? Und: Eine Kräuterwanderung im Schwarzwald. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Diese Leute landen zunehmend bei den Grünen. Neue Mittelschicht, „privilegiert“, okay, aber gleichzeitig einfach berufstätige Eltern mit Kindern in der Rushhour des Lebens. Normal mittige Leute von heute. Das ist der Witz und gleichzeitig ist es keiner, weil er nicht den moralischen Abstieg eines Randmilieus erzählt, sondern die Emanzipation des Mainstreams. Unter uns: Wir erleben, wie autoritäre Populisten das „Es wird böse enden“-Gefühl hegemonial machen wollen. Verantwortung bedeutet da nicht, auch zu schreien, dass es böse endet, sondern den Laden zusammenzuhalten.

Das stärkste Indiz, dass wir mehrheitlich bereits in einer neuen Welt leben: Trotz ihrer Nichtrelevanz in der Coronapandemie beziehen sich längst wieder alle anderen auf die Grünen. Bei der Linkspartei muss man sehen, ob sie nach Katja Kippings Rückzug nicht wieder hinter ihre sichere Mauer zurückkehrt. Aber Union, SPD ist eh klar und selbst die FDP kommt jetzt dahergeschlichen.

Eine neue Methodik

Alle gehen halt davon aus, dass die nächste Bundesregierung um die Grünen herum gebaut wird. Und zwar unabhängig davon, ob diese nun das Kanzleramt besetzen werden oder nicht. Vielleicht hat Kretschmann recht und er ist der einzige Grüne, der in Land oder Bund mehrheitsfähig ist. Aber die Älteren werden sich erinnern, dass selbst er am Anfang gegen die damalige Mehrheitspartei zum Ministerpräsidenten gewählt wurde.

Das Führungsangebot von Annalena Baerbock & Robert Habeck meint eben nicht „grüne“ Führung oder Führung durch eine Frau oder einen Mann, sondern eine neue Methodik: Die Koordination neuer gesellschaftlicher Bündnisse, die die liberale Demokratie, ihr Wirtschaften und Verteilen sozialökologisch voranbringen können.

Strategisch haben die Grünen jedenfalls kein Problem. Sie brauchen bloß eines – aus Sicht der Konkurrenz. Solange sie sich keins aufschwatzen lassen, sind sie das Zentrum, und ihre Bundesvorsitzenden müssten bescheuert sein, wenn sie die Kraft zweier Herzen im Gleichtakt aufgeben würden – oder sich thematisch oder koalitionär auf andere Parteien beziehen. Noch dazu auf solche, die gerade hinter den Nebeln von Avalon verschwinden.

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Chefreporter der taz, Chefredakteur taz FUTURZWEI, Kolumnist und Autor des Neo-Öko-Klassikers „Öko. Al Gore, der neue Kühlschrank und ich“ (Dumont). Bruder von Politologe und „Ökosex“-Kolumnist Martin Unfried

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