Autorin Katrin Seddig über G20-Roman: „Man kann Gewalt nicht wegputzen“

Ihr Roman „Sicherheitszone“ handelt von den Ausschreitungen beim G20-Gipfel in Hamburg 2017. Ein Gespräch über das Geschehene und die Wut.

Eine Person wird von der Polizei brutal auf die Straße gedrückt..

Auf der „Welcome to Hell“-Demo beim Hamburger G20-Gipfel am 6. Juli 2017 Foto: Omer Messinger/imago

„Es gibt sehr viele Wahrheiten, mehr als es Menschen gibt“, schreibt Katrin Seddig auf der ersten Seite ihres soeben erschienenen Romans „Sicherheitszone“ (Verlag Rowohlt.Berlin). Was die Geschehnisse während des G20-Gipfels in Hamburg betrifft, sind diese Wahrheiten hart umkämpft. Viele Hamburger*innen regen sich noch drei Jahre nach dem Gipfel darüber auf, was damals passiert ist und wie es hinterher von Politikern und Polizeichefs dargestellt wurde.

Anhand von drei Generationen einer Familie, die in einem beschaulichen Hamburger Vorort lebt, zeichnet Seddig kontroverse Perspektiven auf die Gewaltkulisse. Es lieben, streiten und diskutieren ein besorgter und naiver Vater und eine engagierte Mutter, eine Tochter, die erste Demoerfahrungen macht und vieles hinterfragt, ihr Bruder, der Polizist ist und Angst hat, ihr mit dem Knüppel gegenüberzu­stehen, und die Großmutter, die in ihren Erinnerungen in den Krieg zurückgeworfen wird.

taz: Frau Seddig, haben Sie in Ihrem Familien- oder Bekanntenkreis einen Polizisten, der beim G20-Gipfel in Hamburg im Einsatz war?

Katrin Seddig: Nein, nicht im näheren Umfeld. Es gab den einen oder anderen im entfernteren Bekanntenkreis, aber es war ganz schwierig, für den Roman mit einem von ihnen zu sprechen, fast alle sind abgesprungen. Ich hätte gern mehr Informationen von Polizisten gehabt.

Mit den anderen Figuren hat es sich wahrscheinlich einfacher ergeben – den besorgten Vater und Ladenbesitzer, dessen Geschäft in der abgesperrten Zone liegt, die Tochter, die erste Demoerfahrungen sammelt, die engagierte Mutter …

Klar, viele Leute in meinem Umfeld waren mehr oder weniger involviert. Die Roman-Eltern sind ja in meinem Alter, meine Kinder im Alter der Roman-Kinder.

Die Erzählung beginnt mit einer Szene der autonomen Welcome-to-Hell-Demo: Der Jugendliche Paul bekommt am Fischmarkt einen Polizeiknüppel auf den Kopf und verliert das Bewusstsein.

Diese Geschichte ist real so passiert, der Junge ist ein Bekannter von meinem Sohn. Er wollte anderen über die Flutschutzmauer helfen und hat den Knüppel abbekommen. Da sind ja einige verletzt worden. Vieles, was in dem Roman passiert, sind Erfahrungen, die ich persönlich gemacht oder mitbekommen habe.

Haben Sie auch die Konflikte und Spannungen zwischen den Protagonisten so in Ihrem Umfeld erlebt?

Ja, es war von vorne herein klar, dass sich da gesellschaftlich harte Fronten gegenüberstehen werden.

Ihr Buch beginnt mit einem Zitat von Olaf Scholz: „Es ist gut, dass die HamburgerInnen in diesen Tagen solidarisch zusammenstehen.“

Das war der letzte Satz seiner Regierungserklärung zu G20. Olaf Scholz meinte wohl, der Gipfel habe die Stadt näher zusammengebracht. Es gab ja auch Solidarität, zum Beispiel, als das Camp verboten wurde und die Leute andere bei sich übernachten haben lassen.

Aber es sind auch Gräben entstanden – in der Stadt sowie zwischen Ihren Romanfiguren.

Politische Spaltung ist sowieso schon vorhanden, aber der Gipfel hat den Riss vertieft und die Stadt weiter gespalten. Viele haben gesagt „Demonstrationen sind wichtig, wir sind ja eine demokratische Gesellschaft“, aber dann haben sich dieselben Leute plötzlich ganz klar gegen die Proteste gestellt und alles sehr vereinfacht, nach dem Motto: „Das sind doch alles Randalierer“. Da wundert man sich und fragt sich, ob diese eigentlich intelligenten Leute nicht unterscheiden können. Okay, es war auch schwer, es sind so viele Dinge passiert, trotzdem muss man eine differenzierte Haltung finden.

Katrin Seddig, 50, lebt nahe dem Hamburger Schanzen­viertel. „Sicherheitszone“ ist ihr fünfter Roman. Für taz.nord schreibt sie die Kolumne „Fremd und befremdlich“.

In welcher Position finden Sie sich dabei wieder?

Gar nicht in einer einzelnen meiner Romanfiguren. Ich habe nichts organisiert, war nicht in einer der Gruppen unterwegs und habe nichts blockiert. Ich war die meiste Zeit allein auf der Straße unterwegs. Ich habe mich als Beobachterin gefühlt, die zwar inhaltlich hinter den Demos steht, aber nicht richtig beteiligt ist. Viele Leute haben von zu Hause aus ein Urteil gefällt. Sie haben im Fernsehen gesehen, da passiert etwas Gewalttägiges, das lehnen sie ab, und wussten dann auch schon, wer das gewesen sein könnte. Aber so einfach kann man sich das Leben in seinen Urteilen nicht machen.

Waren Sie als Schriftstellerin unterwegs oder als betroffene Anwohnerin?

Als alles. Ich war nicht da, weil ich einen Roman über G20 ­schreiben wollte, das wusste ich da noch nicht. Ich habe aber während des Gipfels die Berichterstattung verfolgt und wollte auch selbst möglichst viel mitkriegen. Hinterher habe ich mich gefragt, wie man das erzählerisch bewältigen kann. Herausgekommen ist eine mögliche Erzählung von vielen.

Waren Sie auch auf der Welcome-to-Hell-Demo?

Ja, aber als sie so eskaliert ist, habe ich gesehen, dass ich wegkomme, es war gefährlich. Aber das Motto „Welcome to Hell“ fand ich intellektuell das gelungenste Motto überhaupt.

Warum?

Es ist sehr vieldeutig, man kann es so verstehen, dass man jemandem die Hölle bereiten will, mit der Demo. Aber so habe ich es nicht gelesen, sondern bezüglich der Politik, die bei so einem Gipfeltreffen gemacht wird. Dass das eine Art Hölle ist, die da der Welt bereitet wird. Es gab einen Lautsprecherwagen mit der Aufschrift „We are fucking angry“. Das hat sich gut eingefügt in die Botschaft. Wieso sollte man das nicht auf den Punkt bringen und provokant sein?

In einer Szene trinken die Figuren Natasha und Ronald auf einem Balkon im Schanzenviertel guten Wein und essen Bruschetta, während unten die Hölle los ist. Dabei sprechen sie über das Schöne und das Erregende in der Gewalt. Haben Sie das auch gesehen?

Natasha hat einen gewissen Abstand zu den Ereignissen, indem sie einen künstlerischen Standpunkt vertritt. Den hatte ich zwischendurch auch. Allein die Bilder, die Farben, der rosa Nebel vor der Hafenkulisse und der untergehenden Sonne, die Leute, die erregt waren, das waren sehr beeindruckende Bilder. Schlachtenbilder haben immer eine eigene Ästhetik. Der ästhetischen Blick schafft einen inneren Abstand. Von der Straße aus sieht man das nicht.

Die Figur Ronald regt sich sehr über diese Sichtweise auf – für viele war es ja gar nicht schön.

Natürlich nicht, aber ich finde es manchmal nicht schlecht, so eine Haltung einzunehmen, weil es einem die Möglichkeit gibt, das Geschehen in größere Zusammenhänge und geschichtliche Vorgänge einzuordnen. Es ist ja nicht das erste Mal, dass so etwas passiert. Was sich hier im Kleinen ereignet hat, trägt sich im viel größeren Maßstab immer wieder in der Welt zu. Und es interessiert mich, zu gucken, was bei gewalttätigen Protesten bei den Leuten passiert, die sich daran beteiligen. Welche Freude empfinden die dabei, was ist das für eine Art von Wut, wenn es keine politische ist, oder gibt es überhaupt eine unpolitische Wut.

Haben Sie eine Antwort darauf?

Ich meine, dass auch die Krawalle im Schanzenviertel politisch waren. Selbst diese Fitnessstudio-Jugendlichen, die ihren Oberkörper zeigen und den starken Mann markieren wollen, handeln aus einem Grund, auch wenn sie sich dessen nicht bewusst sind. Sie sind Kinder unserer Gesellschaft. Ohne Grund wird man nicht gewalttätig, man wirft nicht rein zum Spaß Steine auf Polizisten. Man hat immer Gründe, auch wenn man die nicht formulieren kann.

Haben Sie mit der Figur der Großmutter, die sich ständig an den Krieg erinnert fühlt, bewusst diese Parallele aufgemacht?

Ja, aber nicht, weil ich das als ein Kriegsszenario empfunden habe, sondern weil dieser Vergleich immer wieder auftauchte, in der Presse oder auch aus den Mündern von Leuten, die das dann rein aufgrund dieser Bilder so empfanden, die gar nicht dabei waren. Weil es so dargestellt wurde.

Nach dem Gipfel ärgern sich einige Ihrer Figuren darüber, dass Hamburger*innen das Schanzenviertel und die Sparkasse putzen.

Eine Freundin von mir hat sich so aufgeregt, weil Aufkleber von ihrer Tür weggeputzt wurden. Da dachte ich: Was ist los mit den Leuten? Die Leute haben sich Tücher um den Kopf gebunden und Straßen geschrubbt, die noch nie sauber waren. Vielleicht haben sie sich eingeredet, man könnte alles, was passiert ist und für viele sehr traumatisch war, durch Putzen wieder in Ordnung bringen. Aber man kann das nicht wegputzen.

Warum hat Sie das so aufgeregt?

Es ist psychopathisch! Das ist, als wenn jemand im Haushalt verprügelt wird und die Mutter danach panisch die Wohnung putzt, um sich besser zu fühlen. Ich denke, es wäre besser gewesen, wenn die Scherben drei Tage liegen geblieben wären. Das hätte mehr dem inneren Zustand der Leute entsprochen. Ich finde die Putzaktion absurd. Aber ich möchte auch nicht einzelne Menschen verurteilen, die andere Gedanken und Gefühle haben. Es gab Schlimmeres, als dass jemand die Straße putzte.

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