Der Schatz in der Papprolle

Das Sprengel Museum Hannover macht mit „El Lissitzky und eine Rolle Plakate“ sowie „Elena Liessner-Blomberg. Zeichnungen“ Vergessenes aus den sowjetischen 1920ern wieder zugänglich

Nikolai Prussakow und Grigori Borissow: Filmplakat zu Jakow Protasanows „Aelita“ (UdSSR 1924), 1926, ­Farblithografie 101 x 72 cm Foto: Werner Herling/Sprengel Museum Hannover

Von Bettina Maria Brosowsky

Als 1979 das Sprengel Museum in Hannover eröffnet wurde, erhielt es nicht nur Kunstschätze klassischer Moderne des namensgebenden Stifterehepaares, sondern auch Sammlungen anderer Hannoveraner und niedersächsischer Häuser, denn in der neuen Institution sollten die Bestände zur Kunst des 20. Jahrhunderts zentral gebündelt werden. So gelangte um 1982 auch eine unscheinbare, nie inventarisierte Papprolle ins Grafikdepot – und blieb dort unbesehen, bis im vorigen Jahr brandschutztechnische Ertüchtigungen der Gebäude den Umzug in neue Depoträume erzwangen.

In diesem Zusammenhang sichtete die Kuratorin für Grafik, Karin Orchard, nach rund 37 Jahren des Vergessens den Inhalt der Rolle und entdeckte dabei etwa 27 sowjetische Filmplakate aus den Jahren 1924 bis 1928. Die großformatigen, teils aus bis zu acht Einzelblättern bestehenden Plakate stammen von so namhaften Künstlern wie Alexander Rodtschenko, den Brüdern Wladimir und Georgi Stenberg und Grigori Borissow. Sie bewerben russische Stummfilme, vier US- und zwei deutsche Pro­duktionen. Aus den mittlerweile restaurierten Plakaten hat Orchard nun eine Ausstellung zusammengestellt, die neben dem grafikhistorischen Einblick in die Filmgeschichte der jungen Sowjetunion die Provenienz der Plakate rekonstruiert.

„Von allen Künsten ist meines Erachtens die Filmkunst die wichtigste“, soll Lenin 1922 gesagt haben. In dem weiten, ökonomisch rückständigen Land mit einer Bevölkerungsmehrheit aus Analphabeten unzähliger Sprachen und Dialekte war der Stummfilm wohl das geeignete Medium, Menschen mit Propaganda, Bildung und Unterhaltung zu erreichen. Nach dem Erliegen der russischen Filmproduktion im Zuge der Oktoberrevolution 1917 erlebte die neue Filmkunst der Sowjet­union von Mitte bis Ende der 1920er Jahre ihre Blüte.

Neben Melodramen, Abenteuer- und Slapstick-Filmen für das einheimische Massenpublikum konnte sich eine experimentelle Filmavantgarde, etwa von Sergei Eisenstein und Dsiga Wertow, etablieren. Sie machte auch in intellektuellen Zirkeln des westlichen Auslands Furore und wurde stilprägend für das deutsche Kino der Weimarer Republik. So fehlen in der Ausstellung nicht die bildgewaltigen Plakate zu Eisensteins Film­ikone „Panzerkreuzer Potemkin“ (1925/26) und „Aelita: Reise zum Mars“ (1924) mit futuristischen Filmaufbauten durch Alexandra Exter. Charakteristisch für die effektvolle Plakatkunst aus Bild, Schrift und Farbe war die Fotomontage – sie sollte die Aufmerksamkeit selbst noch des nachlässigsten Passanten gewinnen.

Allerdings musste die konstruktivistische Grafik aus drucktechnischen Gründen meist als fotorealistisch handgezeichnete Lithografie produziert werden, da nur sie feine Durchzeichnungen, starke Kontraste und intensive Farbwerte liefern konnte. Auf der Pariser „Exposition der Arts Décoratifs“ sorgte die Sowjetunion 1925 dann nicht nur mit dem ephemeren Pavillon Konstantin Melnikows für ästhetisches Aufsehen und erhielt den „Grand Prix d’Architecture“, auch ihre Plakatkunst wurde dort prämiert.

Neben den Filmplakaten zeigt die Ausstellung Architektur­skizzen des russischen Konstruktivisten El Lissitzky, die sich in derselben Papprolle fanden. Sie verweisen auf weitere Ausstellungsbeteiligungen der Sowjetunion, nämlich an der „Pressa“ 1928 in Köln sowie „Film und Foto“ 1929 in Stuttgart.

In beiden Fällen zeichnete Lissitzky für die Präsentationsarchitektur verantwortlich. El Lissitzky, künstlerisches Multitalent, hatte von 1909 bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs an der TH Darmstadt Architektur studiert, wurde 1918 in Moskau diplomiert und kam bis 1921 regelmäßig nach Deutschland zurück. Er wurde eine wichtige Figur des intellektuellen Austausches zwischen Westeuropa und der Sowjetunion.

Charakteristisch für die effektvolle Plakatkunst war

die Technik der Fotomontage

Häufiger Gast in Hannover

Ab 1922 war er häufiger in Hannover, so 1923 für eine Ausstellung in der Kestner-Gesellschaft. Hier lernte er seine Ehefrau, die Kunsthistorikerin Sophie Küppers, kennen und realisierte 1927, auf Einladung Alexander Dorners, sein Raumkunstwerk „Kabinett der Abstrakten“ für das Provinzialmuseum, das 2017 im Sprengel Museum rekonstruiert wurde. Es scheint also naheliegend, dass die Filmplakate auf Initiative Lissitzkys nach Hannover gelangten, vermutlich für die „Sammlung vorbildlicher Plakate“, die Dorner um 1924 begonnen hatte, als wirtschaftliche Engpässe wenig Spielraum für Ankäufe ließen.

Ebenfalls im Jahr 1923 beteiligte sich die junge Künstlerin Elena Liessner-Blomberg an einer Ausstellung in Hannover, organisiert von der einflussreichen Galerie Herbert von Garven. Lange wurde im Sprengel Museum eine neuerliche Präsentation Liessner-Blombergs diskutiert, die der Volontär Benedikt Fahrnschon jetzt in kongenialen Dialog mit dem Plakatfund setzte.

Liessner-Blomberg, 1897 in Moskau mit österreichischen Wurzeln geboren, gehörte zu den geschätzt 300.000 russischen Emigrant:Innen, die in nachrevolutionären Zeiten in Berlin lebten. Künstlerischem Privatunterricht hatte sie ab 1920 Studien an den neugegründeten BXYTEMAC (Wchutemas), dem „sowjetischen Bauhaus“, folgen lassen, sie empfand den Unterricht als Befreiung. Die feinen Zeichnungen, Aquaralle und Collagen aus ihren frühen Berliner Jahren spiegeln den Bruch mit einem akademischen Realismus wider, verbleiben aber in figürlicher Darstellung: fiktive Modeentwürfe, Theaterfigurinen und städtische Szenen. Das Werk der 1978 in Ostberlin Verstorbenen war in der alten Bundesrepublik fast vergessen.

Bis 15. November, Sprengel Museum, Hannover