Regeln der Filmfestspiele von Venedig: Wir wissen, wo du gesessen hast

Die Pandemie verlangt nach einer neuen Kino-Etikette. Mit den Füßen abgestimmt wird weiterhin, unter anderem bei Amos ­Gitais Wettbewerbsbeitrag.

Menschen mit Atemschutzmasken sitzen in einem Kinosaal

Schön artig sitzen bleiben: Festivalbesucher*innen in Venedig Foto: Domenic Stinellis/ap

Eine dramatische Szene im Kino, allerdings nicht auf, sondern vor der Leinwand: Ein Kinobesucher ein paar Reihen weiter vorn windet sich körperlich, weil ihm jemand anderes den Blick auf die Untertitel versperrt. Der Kopf geht nach links, dann nach rechts, das Ganze geht eine Weile so hin und her, schließlich erhebt sich der sichtbeschränkte Mann und wählt stattdessen einen freien Sitz ohne Hindernis.

Bis zu diesem Frühjahr wäre der Vorgang nicht der Rede wert gewesen. Bei den Filmfestspielen von Venedig ging die Geschichte allerdings ungewohnt weiter. Denn kaum hatte der Mann sich umgesetzt, stürmte schon eine Aufseherin auf ihn zu, die ihn aufforderte, zum ursprünglichen Sitz zurückzukehren.

Der Mann weigerte sich, die Aufseherin holte einen Kollegen zu Hilfe, der dem Mann deutlich machte, er müsse das Kino verlassen, wenn er nicht seinen alten Platz einnehme. Nach ein paar Minuten fügte sich der Mann, der im Übrigen selbst eine stattliche Körpergröße hatte und so saß, dass er zusätzlich selbst die Sicht auf die Untertitel erschwerte.

Durch die Pandemie kommen bei Veranstaltungen wie einer Kinovorführung mithin völlig neue Verhaltensregeln ins Spiel. So wird in Venedig vor jeder Vorführung durchgesagt, dass man „der Covid-19-Vorschriften wegen“ den gebuchten Platz auch behalten müsse. Im Zweifel lassen sich so, falls unter den Besuchern jemand positiv auf das Coronavirus getestet werden sollte, Kontakte besser zurückverfolgen.

Für Kinos, Konzerte und Thea­teraufführungen könnte das bis auf Weiteres gängige Praxis werden, die durchaus Sinn hat, selbst wenn es persönliche Nachteile mit sich bringt. Einige Festivalgäste scheinen das trotz tagtäglicher Wiederholung vor den Vorführungen noch nicht gänzlich zu beherzigen. Die überwiegende Mehrheit bleibt aber wie angeordnet sitzen.

Was bislang nicht gut ankam

Oder verlässt kurzerhand das Kino, sofern der Film ihnen nicht gefällt. Bei Amos ­Gitais Wettbewerbsbeitrag „Laila in Haifa“ war die beobachtete Zahl an Zuschauern, die derart mit den Füßen abstimmten, bisher am größten. Man kann es ihnen nicht verdenken, erinnert die Geschichte, die eine Nacht lang den israelisch-palästinensischen Gästen des Clubs Fattoush in Haifa bei ihren Gesprächen folgt, doch etwas an ein missglücktes Bühnenstück. Die Kamera wandert hierhin und dorthin, verschafft den Protagonisten ihre Auftritte und Abgänge, dazwischen tauschen sie schwer zu ertragende Plattitüden aus. Am Ende war noch nicht einmal Applaus zu vernehmen.

Aus anderen Gründen schwierig gestaltet sich Emma Dantes italienischer Wettbewerbsfilm „Le sorelle Macaluso“, der fünf Geschwister in Palermo durch drei Lebensphasen begleitet. Im ersten Teil in den achtziger Jahren sind die elternlosen Schwestern noch Kinder und Jugendliche, ihr Geld bekommen sie durch das Vermieten von Tauben, die sie in einem Verschlag auf dem Dach über ihrer Wohnung halten. Zusammen geht es an den Strand, man amüsiert sich. Bis Antonella, die kleinste, plötzlich bei einem Badeunfall verunglückt.

Im zweiten Teil sind die Schwestern erwachsen, teils sichtlich gealtert, einige von ihnen wohnen immer noch in derselben Wohnung. Untereinander haben sich die Verhältnisse verschoben. Sie treffen sich eines Abends zu einem Essen. Ein Streit eskaliert, es wird geschrien, noch mehr geschrien, Handgreiflichkeiten folgen.

Bis dahin präsentierte sich der Film in einem scheinbar beiläufigen Realismus, der selbst da, wo er lakonisch sein soll, etwa wenn die leere Wohnung der Schwestern den Verlust der jüngsten andeuten sollte, oft unfreiwillig selbstverliebt oder gar redundant wirkte. Auch das Schreien in der Streitszene hatte etwas Redundantes. Um die letzte Phase des Films im hohen Alter der verbliebenen Geschwister abzuwarten, fehlte in diesem Fall daher schlicht die Geduld.

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Jahrgang 1971, arbeitet in der Kulturredaktion der taz. Boehme studierte Philosophie in Hamburg, New York, Frankfurt und Düsseldorf. Sein Buch „Ethik und Genießen. Kant und Lacan“ erschien 2005.

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