„Das Risiko wird kleingeredet“

IMPFEN 2011 traten so viele Fälle von Masern auf wie seit zehn Jahre nicht mehr. Eigentlich müsste die Krankheit gar nicht mehr auftreten, sagt Charité-Ärztin Regine Heilbronn

■ 1954 geboren, leitet das Institut für Virologie der Charité. Sie forscht über Schutzimpfungen.

INTERVIEW JANINA BEMBENEK

taz: Frau Heilbronn, vergangenes Jahr zählte das Landesamt für Gesundheit und Soziales 160 Fälle von Masern in Berlin. Das sind so viele wie seit zehn Jahren nicht mehr. Alarmiert Sie das?

Regine Heilbronn: Wenn konsequent geimpft würde, müssten diese Zahlen bei null liegen. Schrecklich ist, dass Kinder in Berlin und der Bundesrepublik an einer Hirnhautentzündung als Folge von Masern gestorben sind. Das ist verhinderbar.

Bislang gibt es eine rund 90-prozentige Impfabdeckung in Berliner Bezirken. Reicht das?

Je höher, desto besser. Die zehn Prozent der Menschen ohne Impfung haben immer das Risiko, sich anzustecken – sei es in öffentlichen Räumen oder im Urlaub. Bei einer 95-prozentigen Impfrate kann allerdings schon davon ausgegangen werden, dass Ansteckungen extrem unwahrscheinlich wären.

Sind Masern denn wirklich so gefährlich?

Die Masernerkrankung ist schwer und kann dramatische Verläufe nehmen. Sie geht mit extrem hohem Fieber und gelegentlich schwer verlaufenden Lungen-, Mittelohr- oder Bindehautentzündungen einher. Bei einer von rund tausend Personen kommt auch eine Hirnhautentzündung hinzu, die zum Tode führen kann oder bleibende Schäden verursacht. Aus diesem Grund ist die Krankheit weltweit die Todesursache Nummer eins bei Kindern. Deshalb möchte die Weltgesundheitsorganisation sie durch Kampagnen ausrotten.

Wie sieht die Lage in Deutschland aus?

Hierzulande werden Gott sei Dank viele Kinder geimpft und sind somit geschützt. Das Problem sind Lücken in der Impfverbreitung, die durch Impfgegner entstehen. Das birgt die Gefahr von lokalen Ausbrüchen.

Masern traten 2011 vermehrt in Steglitz-Zehlendorf und Reinickendorf auf. Welche Hintergründe spielen da eine Rolle?

Interessanterweise ist in den neuen Bundesländern die Akzeptanz für Impfungen und dadurch die Impfrate viel höher als im Westen der Republik. Dieser Unterschied hängt mit der Impfpflicht in der DDR zusammen. Das spiegelt sich auch teilweise in den Berliner Bezirken wider.

Impfgegner kommen häufig aus bildungsnahen Familien, so das Landesamts für Gesundheit. Wie erklären Sie sich das?

Impfgegner legen sich häufig ein Korsett aus Begründungen zurecht, warum Impfen nicht von Vorteil ist. Dazu gehört die Sorge, ob der Nadelstich bei dem eigenen Kind nötig ist, wenn es deshalb schreit. So wird das Risiko kleingeredet. Beim näheren Hinsehen fällt auch auf, dass diese Masernausbrüche oftmals in Waldorfschulen stattfanden, also im Umfeld von potenziellen Impfgegnern. Wenn da eine gewisse Rate von Impfungen unterschritten ist, reicht ein Kind aus, um eine Schule lahmzulegen – weil die Lehrer auch häufig nicht geimpft sind.

Ein Argument von Impfgegnern ist, dass die Erkrankung auch passiv durchgemacht werden kann. Ist das eine Mär?

■ Impfgegner in gut situierten Bezirken bereiten der Gesundheitsverwaltung Sorge. Senator Mario Czaja (CDU) hat für Anfang 2013 eine Kampagne für Masern-Impfungen in „Problembezirken“ angekündigt, die vor allem im Westen der Stadt liegen. Die mangelnde Impfbereitschaft in bildungsnahen Familien in Bezirken wie Steglitz-Zehlendorf und Reinickendorf sei ein Wohlstandsproblem.

■ In den beiden Bezirken hatte es zwei große Ausbrüche und viele ungeimpfte Kinder gegeben. 2010 warden 92 Erkrankungen gemeldet worden, 2009 nur 33. (dpa)

Zum Ausbruch der Krankheit kommt es praktisch zu hundert Prozent. Zwar können Masern auch wie eine schwere Grippe verlaufen, krank wird aber praktisch jeder.

Wie leicht können Masern übertragen werden?

Da reicht die ausgeatmete Luft. Allerdings sind die Patienten wenige Tage vor dem Ausbruch der Erkrankung schon ansteckend, das heißt also, bevor sie es überhaupt bemerken. In dieser Zeit können sie schon den gesamten Kindergarten oder die Schule angesteckt haben.

Ab welchem Alter ist eine Impfung zu empfehlen?

Das Risiko, eine schwere Masernerkrankung durchzumachen, steigt mit zunehmendem Alter. Junge Erwachsene und Jugendliche, die sich mit Masern anstecken, haben häufig gravierendere Komplikationen. Deshalb sollte frühzeitig geimpft werden. Die Ständige Impfkommission des Robert Koch-Instituts empfiehlt, frühestens im zehnten Lebensmonat zu impfen. Meistens geschieht dies als dreifache Impfung zusammen mit Röteln und Mumps. Einige Monate später wird die Impfung dann noch einmal wiederholt, um einen langfristigen Schutz zu sichern.