Libanon: Ein Staat scheitert

Ein Land vor der Pleite: überschuldet, von Inflation gebeutelt und Korruption zerfressen

Der Libanon hatte bereits vor der Explosion in der Hauptstadt Beirut massive Probleme. Die Staatsschulden betragen mehr als 80 Milliarden Euro. Die Wirtschaft schrumpfte, verstärkt durch die Coronapandemie, Zehntausende Menschen verloren ihre Arbeit. Die lokale Währung verlor 80 Prozent ihres Wertes, die Armutsrate stieg innerhalb eines Jahres von 28 auf 55 Prozent 2020.

Privatbanken und die Zentralbank haben dem Staat 70 Prozent ihrer Anlagen geliehen. Doch anstatt diese in Infrastruktur und das Gemeinwohl zu stecken, ging das Geld in private Taschen. Der Internationale Währungsfonds schätzt die Gesamtverluste im Bankensystem auf 49 Milliarden US-Dollar. Es droht ein Staatsbankrott.

Infolge der engen Verquickung von politischer und wirtschaftlicher Elite ist das Land eines der ungerechtesten der Welt: Nach Angaben der Vereinten Nationen besaßen im Jahr 2019 die reichsten 10 Prozent des Landes knapp 230 Milliarden US-Dollar – etwa 70 Prozent des gesamten Privatvermögens. Eine breite Mittelschicht fehlt.

Die Explosion versinnbildlicht auf tragische Weise das Versagen der korrupten Eliten. Der Hafen ist ein Mikrokosmos ihrer Machenschaften: Fahrlässigkeit, strafrechtliche Inkonsequenz, Staatsplünderung. Der Hafenchef, Zollbeamte, die staatliche Sicherheitsbehörde, der Regierungschef, sogar der Präsident – alle haben von dem ungesichert gelagerten Ammoniumnitrat gewusst.

Um einen Neuanfang zu erreichen, müsste die neue Regierung unter dem ehemaligen Botschafter des Libanon in Deutschland, Mustapha Adib, jenseits der politischen Rivalitäten agieren. Als notwendig erachten unabhängige Experten einen erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds über einen Rettungsplan. Im Gegenzug müssten für Hilfsgelder wirtschaftliche Reformen umgesetzt sowie der aufgeblähte öffentliche Sektor verkleinert werden.

Doch es ist unwahrscheinlich, dass das geschieht. Denn dies wäre gleichbedeutend mit der Entmachtung der Oligarchen. Die wollen nicht weichen. Der maronitische Präsident Aoun, der schiitische Parlamentssprecher Berri, die sunnitische Unternehmer- und Ministerpräsidentenfamilie Hariri, der schiitische Hisbollah-Chef Nasrallah und der rechts orientierte christliche Parteiführer Geagea, sie haben zu viel zu verlieren.

Julia Neumann