Schulstart trotz Corona in Niederlanden: Breitband ist nicht alles

Die Niederlande gelten als Vorbild in Sachen digitalisierte Schule. Doch in der Coronakrise strauchelten Schulen und Schüler selbst hier.

Eine Lehrerin zeigt, wie ind en ellbogen genießt werden soll in einem Klassenzimmer

Unterricht 2020: Schüler an einer Grundschule in Den Haag lernen, richtig zu niesen Foto: Sem van der Wal/imago

AMSTERDAM taz | Auch in den Niederlanden beginnen in diesen Wochen die Schulen. Für die Sekundarstufe ist es die Wiedereröffnung nach der ersten Coronawelle, wogegen die Grundschulen vor den Ferien schon mit geteilten Klassen experimentierten. Dominiert wird der Start von der Diskussion über Gesichtsmasken und Lüftung der Klassen. Über allem schwebt die Frage: Wie geht es weiter mit dem digitalen Lernen, oder wie man hier sagt: onderwijs op afstand (Unterricht auf Distanz)?

In Deutschland sieht man die Niederlande bei diesem Thema gerne in einer Vorreiterrolle, aufgeschlossen gegenüber Neuem und experimentierfreudig. „Die technische Infrastruktur ist bis in den letzten Winkel gegeben“, heißt es etwa auf dem Techportal chip.de. „Die Verantwortlichen sind bereit, Geld für die digitale Aufrüstung der Schulen in die Hand zu nehmen. Und gerade die jüngeren Lehrer haben keine Berührungsängste vor Medien, die ohnehin jeder nutzt. Laptop und Lernsoftware gehören schon an der Grundschule zum Alltag.“

Wie aber sieht das in der Praxis aus, wo der onderwijs op afstand der letzten Monate kein Thema war, bei dem sich Schulen als innovationsfreundlich profilieren konnten, sondern urplötzlich die einzige Option?

Wilfred van Gerrevink, Grundschullehrer aus Haarlem, beschreibt die Situation stellvertretend für viele als „ziemlichen Schock“ und „sehr gewöhnungsbedürftig“. Er lobt die klare Kommunikation zwischen Team und Schulleitung, stellt aber auch fest, dass manche Kinder schwer zu erreichen waren und zu Hause nicht über gute Computer verfügten.

Vorbereitungen für den Teillockdown

„Vor allem sozial vermissten die Kinder viel, saßen oft drinnen, sprachen und spielten wenig mit ihren Freunden“, so van Gerrevink, der unter anderem Rechnen, Schreiben und Lesen unterrichtet. In der nördlichen Region, wo er arbeitet, ist das neue Schuljahr nun zwei Wochen alt. Die Perspektive ist unsicher, in den Ferien stiegen die Infektionszahlen wieder an: „Wir gehen von einem Teillockdown aus.“ Das Thema wird voraussichtlich bald wieder auf den Tisch kommen.

Wilfred van Gerrevink, lehrer

„Vor allem sozial vermissten die Kinder viel“

In der Grundschule De Cascade in Voorburg bei Den Haag, wo in dieser Woche wieder die Schule beginnt, ist man vorbereitet. Dort hat die Krise bewirkt, dass man bestehende Pläne eines maßgeschneiderten Unterrichts auf digitalem Weg schneller umsetzte.

„Wir merkten, dass die meisten Kinder wenig Mühe hatten, Aufgaben aus der Distanz zu erledigen. Gerade bei einigen Schülern mit ADHD (Aufmerksamkeitsdefizit mit Hyperaktivität; die Red.), die in der Schule Probleme haben, sich zu konzentrieren, lief das Zu-Hause-Arbeiten zu selbstbestimmten Zeiten perfekt. Viel mehr Schüler als wir gedacht hatten, fanden diese Wahlmöglichkeit gut“, so Direktor Moesin Laghmich.

Zum neuen Schuljahr will man Geld und Zeit investieren, um allen 340 Kindern einen eigenen Laptop zur Verfügung stellen, und „völlig personalisiert arbeiten“, so Laghmich im Gespräch mit der taz. „Wir wollen jetzt den Moment nutzen und viel weniger frontal unterrichten.“ Stattdessen setzt man auf kleine, klassenübergreifende Lerngruppen. Ein Teil des Stoffs soll aber weiter digital vermittelt werden, was das individuelle Niveau der Schüler berücksichtige – „und es bereitet sie auf einen neuen Lockdown vor“.

Schule startet: Deutschland hat den Schulstart im Corona-Jahr bereits weitgehend hinter sich. Am oder kurz nach dem 1. September startet nun in vielen Ländern weltweit das Schuljahr. Viele Regierungen zögern jedoch mit einer Rückkehr zum Alltag – niemand möchte die Fehler Israels oder Australiens wiederholen. Dort wurden die Kinder zu früh wieder zusammen in die Schulen gesteckt, eine zweite Coronawelle war die Folge.

Schule startet nicht: Bleiben die Schulen geschlossen, fällt für Millionen Schüler:innen der Unterricht aus. Weil es keine stabile Internetverbindung gibt, weil die Familien keine oder nicht genügend Computer oder Smartphones haben. Ein Drittel aller Schulkinder weltweit, vermeldete Unicef vergangene Woche, blieb im Lockdown von Bildung ausgeschlossen: mehr als 463 Millionen Kinder und Jugendliche.

Das taz-Dossier: Die taz bringt zum globalen Schulstart 2020 Berichte unserer Korresponent:innen aus den USA, Brasilien, Uganda, den Niederlanden, China und weiteren Ländern. Alle Texte gebündelt finden Sie nach und nach hier.

Solchem Enthusiasmus steht auch einige Skepsis entgegen. Die Gewerkschaft Algemeen Onderwijsbond (AOb) führte zwischen März und Juni fünf Mitgliederbefragungen durch. Daraus geht Stolz auf den unter erschwerten Bedingungen und Zeitdruck organisierten Distanzunterricht hervor, aber auch Klagen über hohen Druck, Unsicherheit ob der ungewohnten Tätigkeiten und Sorge um die oft anfälligen Schüler, welche sie in dieser Phase aus dem Blick verloren.

Vermeintlich digitales Musterland

AOb-Sprecherin Esther Sloots weist darauf hin, dass Distanz- und Online-Unterricht nicht zwangsläufig dasselbe sind, und es im wissenschaftlichen Bereich schon Beispiele für digitalisiertes Lernen bei physischer Anwesenheit gebe. Sie betont, gerade die Coronakrise habe den Wert von „Live-Interaktion und Schülern wirklich in die Augen schauen können“ gezeigt. Sorge bereitet ihr, dass Abstandsunterricht in der Zukunft als Mittel gegen Lehrermangel ins Bild kommen könnte. „Das ist nicht wünschenswert.“

Offenbar hat die Corona­krise selbst im vermeintlichen digitalen Musterland den Bildungssektor an den Rand seiner Kapazitäten gebracht. Einen nuancierten Blick darauf vermittelt die Einschätzung Frans Schouwenburgs, strategischer Berater für Unterrichtserneuerung bei Kennisnet (Wissensnetzwerk). Diese Stiftung, seit 1999 aktiv, unterstützt Schulen in Zusammenarbeit mit dem Bildungsministerium beim professionellen Einsatz von IT.

Bei der Umsetzung indes sieht Schouwenburg einigen Handlungsbedarf. Während viele Schüler das selbstbestimmte Arbeiten im Lockdown positiv erfahren hätten und oftmals auch der Kontakt zwischen Lehrern und Eltern intensiviert worden sei, fielen diejenigen, die zu Hause nicht ausreichend begleitet und unterstützt würden, zurück. „Zunehmende Chancenungleichheit war eine oft geäußerte Sorge während der Coronakrise.“

Sein Fazit: Onlineunterricht habe durch Corona nicht nur einen boost erfahren, sondern auch gezeigt, dass die digitale Kluft schwierig zu verkleinern sei. Zur Lösung fordert er unter anderem mehr Sachkenntnis der Lehrer, was bei deren ohnehin hohen Arbeitsaufwand freilich nicht leicht werde.

„Man kann in Hardware oder Verbindungen investieren, aber Erfolg stellt sich erst ein, wenn man aus einer deutlichen Unterrichtsversion heraus arbeitet, die Lehrer diese sachkundig benutzen und die richtigen Lehrmittel eingesetzt werden.“

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