NGO-Vorständin über Bildung: „Wir bieten eine Art Deutschkunde“

Hila Limar floh mit drei Jahren mit ihren Eltern von Afghanistan nach Deutschland. Derzeit arbeitet die Architektin bei „Visions for Children“.

Hila Limar sitzt vor einem Fenster mit Kakteen auf der Fensterbank.

Engagiert sich von Hamburg aus für Kinder in Uganda und Afghanistan: Hila Limar Foto: Miguel Ferraz

taz: Frau Limar, würden Sie sich als Flüchtling bezeichnen?

Hila Limar: Unsere Eltern sind von Kabul nach Deutschland geflüchtet, damit wir Kinder in Sicherheit aufwachsen. Ich war drei Jahre alt, aber so gesehen ist die Flucht einfach Teil meiner Biografie.

Haben Sie Erinnerungen an Kabul?

Ich erinnere mich an Momente, die ich zeitlich aber nicht richtig einordnen kann. Wenn ich meinen Eltern Situationen oder Orte beschreibe, wissen sie manchmal nicht, was ich meine.

Sie waren ja auch sehr jung.

Genau. Im Grunde bin ich in Hamburg aufgewachsen. Hamburg ist zu meiner Heimat geworden.

Und Afghanistan?

Ich bin sowohl afghanisch als auch deutsch kultiviert und sozialisiert. Ich bin von afghanischen Eltern erzogen worden, spreche Dari und habe viele Werte, Sitten und Vorstellungen vermittelt bekommen. Nach Afghanistan bin ich aber tatsächlich erst vor zwei Jahren das erste Mal geflogen.

Wie kam es dazu?

Für Visions for Children habe ich Projekte vor Ort besucht. Versucht habe ich das schon zehn Jahre lang, aber die Sicherheitslage ließ es nicht zu. Als ich fliegen konnte, haben alle immer wieder gefragt: Warum setzt du dich dieser Gefahr aus? Aber ich wollte mein Geburtsland sehen. Durch die Fotos, die unsere Eltern mitnehmen konnten und die Geschichten, die sie uns bis heute erzählen, entstand mein erstes Bild von Afghanistan. Erst später, durch die Nachrichten, wurde es durch Bilder vom Krieg und der Zerstörung ergänzt. Ich dachte, ich komme in eine zerstörte Stadt mit depressiver Stimmung.

33, ist in Afghanistan geboren und in Hamburg aufgewachsen. Die Architektin ist seit 2009 Vorstandsvorsitzende des gemeinnützigen Vereins Visions for Children, der sich von Hamburg aus dafür einsetzt, dass weltweit jedes Kind lesen und schreiben lernen kann. Dafür fördert er die Schulbildung in Krisengebieten, vor allem in Afghanistan und Uganda.

Wie war es dann tatsächlich?

Beim Landeanflug auf Kabul kamen mir die Tränen. Es fühlte sich doch nach Heimat an. Ich habe mich direkt verbunden gefühlt. Die Landschaft ist wunderschön und die Menschen waren voller Lebensfreude und überaus herzlich zu mir. Dennoch betrat ich unsere Baustelle das erste Mal sehr zurückhaltend.

Sie meinen die Baustelle eines Ihrer Schulbauprojekte?

Ja. Ich konnte nicht einschätzen, wie die Afghanen auf eine Frau vom Fach reagieren würden. Zu meiner Überraschung begegneten mir alle mit großem Respekt. Egal ob Handwerker, Ingenieur oder Bauleiter – alle haben mich ganz selbstverständlich in das Baugeschehen aufgenommen. Das vermisse ich manchmal in Deutschland, wo ich mich als Frau jedes Mal aufs Neue an der Baustelle behaupten muss.

Inzwischen arbeiten Sie hauptberuflich für Visions for Children. Inwiefern können Sie da Ihre Expertise als Architektin einbringen?

Das lässt sich gut vereinen. Ich verstehe die technischen Zeichnungen und Pläne der Schulgebäude, die wir aus dem Ausland erhalten. Für Laien sind solche schwer zu durchblicken. Dadurch kann ich Verbesserungsvorschläge machen, Raumaufteilungen neu denken und die Materialmengen überprüfen. Wenn wir mit neuen Partner*innen zusammenarbeiten, ist es gut, wenn ich überprüfen kann, ob tatsächlich so viel Material benötigt wird wie angegeben – oder ob wir übers Ohr gehauen werden. Auch auf der lokalen Baustelle kann ich Ideen und Vorschläge einbringen. In Uganda haben wir letztes Jahr sogar erste eigene Entwürfe realisiert.

Mit Visions for Children fördern Sie Bildungsprojekte im Ausland, aber Sie koordinierten auch Hilfe für Geflüchtete in Deutschland. Warum?

Unsere Eltern haben das Schulsystem in Deutschland nicht immer verstanden, weil es kompliziert ist. Es gibt viele Jugendliche, die hier ankommen und es genauso wenig verstehen. Dazu kommen rassistische Diskriminierungen, die man bei Behördengängen, auf dem Arbeitsmarkt, bei der Wohnungssuche oder im Alltag erfährt. Wir wollten eine Anlaufstelle bieten und Mentoring geben, eine Art Deutschkunde. Als diverser Verein dachten wir uns: Wir haben den Background, sprechen die Sprachen, sind jung – und das unterscheidet uns von vielen Sachbearbeiter*innen. Die Jugendlichen entwickeln dadurch ein anderes Vertrauen und öffnen sich.

Wie wichtig ist das Thema Diversität denn in der Entwicklungszusammenarbeit?

Super wichtig. Egal ob Herkunft, sexuelle Orientierung oder Behinderung: Wenn man es schafft, dass unterschiedliche Menschen zusammenarbeiten, kann der Konsens nur besser werden. In der Entwicklungszusammenarbeit muss man sich aber vor allem zurücknehmen können und darf nicht in die Rolle des „weißen Retters“ verfallen, der nach Afrika geht und den Leuten erklärt, wie sie was zu machen haben.

Was Sie beschreiben, nennt sich auch White Saviourism. Sehen Sie in der Entwicklungszusammenarbeit eine wachsende Sensibilität für diese Problematik?

Für uns war dieses Thema immer wichtig. Auch in der UN-Agenda 2030 wird darauf hingearbeitet, dass das Narrativ der reichen Industrienationen, die die armen Länder des globalen Südens retten müssen, verschwindet. Es muss das Ziel sein, sich von seiner eurozentristischen Überlegenheit und den kapitalistischen Intentionen zu verabschieden. Uns war das von Anfang an wichtig.

Was heißt das genau?

Wir sind nie einfach irgendwo hingegangen und haben unsere Vorstellungen einer richtigen Schule auf den Tisch gelegt. Es ist uns wichtig, dass Leute auf uns zukommen, wenn ihre Schule Unterstützung braucht. Wenn man den Menschen einfach irgendetwas vorsetzt, wonach sie nie gefragt haben, gehen sie damit auch anders um, als wenn sie selbst daran mitgearbeitet haben. Doch White Savourism betrifft nicht nur unsere Projektarbeit, sondern auch das Fundraising oder die Eigen-PR. Worauf wir mehr achten, ist unsere Bildsprache.

Zum Beispiel?

Früher haben wir etwas selbstverständlicher Fotos von uns NGO-Mitarbeiter*innen mit den Schüler*innen gezeigt. Damit sind wir jetzt vorsichtiger, weil wir keine stereotypisierten Bilder von nicht-schwarzen Menschen mit schwarzen Kindern reproduzieren möchten. Vor allem versuchen wir mithilfe von lokalen Kollegen*innen, die Schulen zu einem Ort zu machen, der Schüler*innen hilft, ihre Träume und Ideen von ihrer Zukunft selbstständig und nachhaltig zu verwirklichen.

Sind Sie gern in die Schule gegangen?

Weiß ich nicht … ich war eine kleine Streberin, war immer fleißig und habe meine Sachen pünktlich abgegeben. Aber natürlich war es auch einfach cool, meine Freund*innen jeden Tag zu sehen.

Sie haben Bildung von Beginn an sehr ernst genommen.

Ja, definitiv. Ich bin mit dem Bewusstsein aufgewachsen, dass ich hier ganz andere Möglichkeiten habe als in Afghanistan und sie nicht verschenken sollte. Wenn ich in Afghanistan bin, wird mir das immer wieder klar. Wäre ich dort aufgewachsen, hätte meine Schullaufbahn wahrscheinlich in der 5. Klasse geendet. 1996 kamen die Taliban an die Macht und haben Frauen und Mädchen aus dem sozialen Leben verbannt. Bis heute geht nur etwa die Hälfte der Mädchen zur Schule.

Die Schule läuft in Deutschland nach den Coronaschließungen jetzt wieder an. Wie sieht es in Afghanistan aus?

Seit März sind die Schulen aufgrund der Pandemie geschlossen und die Schüler*innen haben nicht die Möglichkeit, an Online-Unterricht teilzunehmen. Den Stoff nachzuholen, wird schwer. Unsere Sorge ist, dass einige ohne Abschluss ausscheiden. Wir hoffen, dass der Unterricht in den nächsten Wochen weitergeht.

Wie wirkt sich Corona auf Ihre Arbeit für den Verein aus?

Alle unsere Events wurden abgesagt. Förderanträge an Stiftungen wurden abgelehnt und Unternehmenspartner haben ihre Budgets gekürzt. Wir haben kein Produkt, das wir verkaufen und sind daher abhängig von Menschen und Unternehmen, die spenden. Wenn man in Kurzarbeit geht, schaut man aber, wo man einsparen kann. Leider trifft das immer als erstes Spenden und nicht das Abo fürs Fitnessstudio oder den Streaming-Dienst.

Sie bekommen also keine staatliche Unterstützung?

Nein. Wir haben keinen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb, somit gelten alle unsere Einnahmen als Spenden. Auch die der öffentlichen Hand, wie zum Beispiel vom Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit. Uns stehen deswegen keine Soforthilfen zu. Das ist absolut unfair, unsozial und ein Armutszeugnis für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit.

Welche Vision haben Sie für Kinder?

Ich wünsche mir, dass alle Kinder auf der Welt faire Lernbedingungen erhalten. Erst durch Bildung erlangen Kinder das nötige Werkzeug, das ihnen ermöglicht, selbstbestimmt zu agieren und langfristig die Gesellschaft voranzubringen.

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