Mitbringsel des Mittelaltertourismus

Auf „Pilgerspuren“ im Norden begibt sich eine zweiteilige Ausstellung auf der Grundlage eines Forschungsprojekts. In Lüneburg geht es um die Bedeutung der Fernwallfahrten, ab Oktober in Stade um die norddeutsche Wallfahrts-Geographie

Die ganze um 1300 bekannte Welt, umfasst von Christi Körper: Die Ebstorfer Weltkarte ist Türöffner der Lüneburger Ausstellung Foto: Abb.: Kollosus/Wikimedia Commons

Von Hajo Schiff

Pilgerwege und Pilgerorte waren nach der Reformation im Norden lange vergessen. Nicht einmal die Forschung hat sich für das Thema interessiert – die letzte Museumsausstellung in Deutschland dazu fand vor 35 Jahren in München statt. Dabei war das Pilgerwesen ein zentraler Bereich der Spiritualität und Ökonomie im Mittelalter und darüber hinaus. Glaubte man bisher, es hätte in Norddeutschland etwa 16 Wallfahrtsziele gegeben, sind inzwischen wieder rund einhundert Kirchen und Kapellen und heilige Brunnen bekannt. Sogar ein ganz vergessener Heiliger, Sankt Hulpe, wurde wiederentdeckt.

Außerdem wurde bei der Grabung im alten Hafen der Hansestadt Stade ab 2013 eine ungewöhnliche Entdeckung gemacht: Rund 200 Pilgerzeichen wurden geborgen, der größte Fund dieser Art von den kleinen Metallornamenten aus einer Blei-Zinn-Legierung, die einen erfolgreichen Pilgerbesuch bestätigten. So wurde deutlich, dass nicht nur aus dem Norden fleißig zu den drei großen christlichen Pilgerzielen Jerusalem, Rom und Santiago de Compostela gereist wurde, sondern dass es auch hier in den nördlichen Gebieten zahlreiche als besonders heilig verehrte Orte gab.

Daraufhin hat man in Niedersachsen ein großes Projekt angestoßen, das sich in drei Phasen den Pilgerspuren widmet: 2018/19 wissenschaftliche Forschung samt Kongress, 2020/21 eine Doppelausstellung in Lüneburg und Stade und zukünftige „touristische Inwertsetzung“ der ehemaligen Wallfahrtsorte im Elbe-Weser-Dreieck. Denn inzwischen ist Pilgern als modernes Wandererlebnis wieder populär, wenn auch eher unter touristischem Aspekt.

Ausgangspunkt der Lüneburger Ausstellung ist die dort im Museum befindliche Weltkarte aus dem Benediktinerinnenkloster Ebstorf zwischen Lüneburg und Uelzen. Das ist eine um 1300 entstandene, zwölf Quadratmeter große Darstellung der drei Kontinente Asien, Europa und Afrika im von Christus gehaltenen Weltenkreis.

Leider ist sie nur im Faksimile erhalten, da das Original 1943 bei einem Bombenangriff in Hannover verbrannte. Golden hervorgehoben im exakten Zentrum dieses Bildes und des damals relevanten Universums: Jerusalem. Es ist überliefert, dass die Nonnen ihre Pilgerreisen nach dieser Karte erlebten. Also ist sie ein hier fast zwingender Türöffner der Ausstellung mit ihren vier Stationen: Vorbereitung einer Pilgerreise, Santiago, Rom und eben Jerusalem.

Bei aller sicher vorhandenen Neugier auf ferne Orte: Pilgern war kein Ausflug. Die vielfach gefahrvolle Reise wurde angetreten, um eine Schuld zu sühnen oder Ablass von zu erwartenden Fegefeuerstrafen zu erhalten. Der örtliche Priester segnete das Vorhaben und stellte nach Beichte und Testamentserstellung einen Pilgerbrief aus.

Sogar ein ganz vergessener Heiliger, Sankt Hulpe, wurde wiederentdeckt

Solch ein offizielles Dokument war neben spezieller Kleidung notwendig, da die Pilger in der Fremde besondere Rechte bezüglich Beherbergung und Verköstigung hatten. Dass bei dergleichen Privilegien auch betrogen wurde, schildert ein Gerichtsprotokoll: Morgens nach der Messe hatten angeblich fromme Pilger Almosen gesammelt, abends wurden sie im Freudenhaus beim Verprassen des Geldes erwischt.

Wird heute gesagt, der Weg sei das Ziel, wäre eine solche Formulierung angesichts der Gefahren zu Wasser und zu Lande damals niemandem eingefallen. Auf der Fahrt nach Santiago nur mit Mühe einem Sturm entronnen, stiftet der Herzog Heinrich zu Braunschweig-Lüneburg 1517 als Dank ein silbernes Schiffsmodell an die bayerische Marien-Wallfahrtskirche Altötting, in der Ausstellung steht ein nach einer historischen Zeichnung von einem 3-D-Drucker neurealisiertes Exemplar.

Mitbringsel nach erfolgreicher Reise zu dem in politischer Absicht gegen die islamische Herrschaft in fast ganz Mittel- und Südspanien begründeten galizischen Kultort das Apostels waren die Jakobsmuscheln oder Objekte wie Rosenkränze aus Gagat, einem besonderen nur in der dortigen Gegend verarbeiteten kohleartigen Material.

Rom war nicht nur Pilgerziel, sondern das absolute Zentrum der Kirche. Viele Reisen dorthin standen im Zusammenhang mit der päpstlichen Verwaltung. Hier konnte eine Heiltumsfahrt mit Antichambrieren für die eigene Karriere verbunden werden, hier erwirkten Kirchleute und hohe Herren Privilegien. So sind hier und in den Archiven des Vatikans besonders viele Quellen erhalten.

In der Ausstellung wird auch mit einem Film speziell auf den Lüneburger Geistlichen Nikolaus Graurock verwiesen. Der ging als junger Priester nach Rom, blieb dort Jahrzehnte, stieg zum juristischen und politischen Vermittler zwischen der Kurie und Norddeutschland auf und kehrte mit reichen Pfründen in Lüneburg und Lübeck belehnt in den Norden zurück, wobei er auch humanistisches Schriftgut mitbrachte. Einfachere Pilger begnügten sich mit kleinen Kopien des „Vera Ikon“, des uralten Christusbildes, das sich angeblich im Schweißtuch der heiligen Veronika abgedrückt hatte.

Kein Ausflügler, eher ein Abenteurer: Jakobspilger aus dem 14. Jahrhundert Foto: Städtisches Museum Herford, Michael Tölke

Die weiteste und wichtigste, auch noch in protestantischer Zeit durchgeführte Pilgerfahrt ist aber die über Venedig nach Jerusalem. Ansichten und historische Modelle der heiligen Bauten der Stadt, zahlreiche Reiseberichte und Abrechnungen sind hier nicht so überraschend, wie ein Tattoo-Studio im Ausstellungsraum: Seit dem 16. Jahrhundert sind Pilgertätowierungen bekannt. Ein Zeichen der realen Anwesenheit im Heiligen Land unauslöschlich in die Haut gestochen – Heinrich Wilhelm Ludolf weist auf einem Gemälde von 1700 stolz seinen entblößten damit verzierten Arm vor. Noch heute gibt es in Jerusalem das immerhin über 200 Jahre alte Studio „Razzouk Tattoo“. Diese Inszenierung leitet über zu Bildern und Devotionalien ganz aktueller Pilgerreisen, schließlich kommen noch heute täglich etwa tausend Pilger nach Santiago und vor Corona auch massenhaft Touristen ins Heilige Land.

Bei einer stark auf Archivalien und kleine Mitbringsel ausgerichteten kulturhistorischen Ausstellung sind zwar seltene und wertvolle, aber keine überwältigend großartigen Schaustücke zu erwarten. Die finden sich eher in der Dauerausstellung des Museums über die reiche Salzstadt Lüneburg. Besonders die Verweise auf Altäre und Malerei finden sich vor allem als Fotos im Katalog.

Der ist mit über 500 Seiten dafür ein neues Standardwerk mit zahlreichen Texten zum Thema und opulenter Ausstattung geworden. Dort ist mehr über die große Geschichte und die kleinen Geschichtchen um das Pilgerwesen zu lesen, von den Reisen der Fürsten bis zum Bericht über die Pilgerfahrt Till Eulenspiegels, von den Wiederentdeckungen norddeutschen Pilgerstätten und der Vielfalt der Pilgerzeichen. Und es wird das Interesse geweckt auf die zweite, auf die regionalen Besonderheiten eingehende Ausstellung in Stade im Herbst.

Doppelausstellung „Pilgerspuren“: „Von Lüneburg an das Ende der Welt“, Museum Lüneburg, bis 1. November 2020; „Wege in den Himmel“, Schwedenspeicher Stade, ­3. Oktober bis 14. Februar 2021