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„Wir erwarten eine lückenlose Aufklärung“

Zwischen Verständnis und Enttäuschung: Wie die Angehörigen der Opfer von Hanau gedenken – trotz der Absage der Demonstration

Nur wenige Menschen durften an der Kundgebung teilnehmen Foto: Boris Roessler/dpa/picture alliance

Von Christian Jakob

Ein Angestellter der Stadtverwaltung von Hanau war am Samstagvormittag über den Freiheitsplatz im Zentrum von Hanau gelaufen und hatte 249 pinkfarbene Punkte auf das Pflaster gemalt. 249 – so viele DemonstrantInnen hatte die Stadt als Höchstgrenze für die Gedenkkundgebung festgelegt, zu der Tausende Menschen erwartet worden waren. Doch wegen der stark steigenden Corona-Infektionen hatte Bürgermeister Claus Kaminsky (SPD) die lange geplante Demo der Angehörigen am Freitagabend überraschend verboten.

Kaminsky hatte selbst zur Demo aufgerufen und sollte dort sprechen. Noch vor wenigen Tagen hatte er im taz-Interview gesagt: „Wir werden das Gedenken nicht einstellen und auch nicht verdrängen. Das wäre völlig unangemessen.“

Die Initiative 19. Februar (I19F) versuchte, das Beste aus der Situation zu machen. „Wir bedauern dies, aber wir sind keine Coronarebellen“, schrieb sie am Freitagabend. Die Mobilisierung sei abgesagt. Gleichzeitig rief sie dazu auf, die nunmehr weitgehend ohne Publikum ablaufende Kundgebung am Samstag per Videostream an möglichst vielen Orten zu zeigen.

Als es gegen 15 Uhr auf dem Freiheitsplatz losging, kümmerte sich niemand um die pinkfarbenen Punkte. Die Menschen hatten sich lose über den Platz verteilt, genau gezählt wurde nicht, die Polizei sah den Abstandsregeln aber Genüge getan. In rund 50 Städten zeigten lokale Gruppen den Videostream vor Ort.

„Wir dürfen hier nur mit 249 Menschen stehen, während um uns herum Tausende einkaufen und in den Bars Wein trinken dürfen“, sagte Newroz Duman von der I19F zur Begrüßung. Rund zwei Stunden sprachen Mütter, Väter, Brüder, Schwestern, Cousins und FreundInnen der Toten. In teils schwer auszuhaltenden Redebeiträgen schilderten sie den endlosen Schmerz, den die Morde bei ihnen hinterlassen haben (siehe Redeauszüge unten).

Viele warfen den hessischen Behörden schwere Versäumnisse, vor und nach der Tat, vor. Hinweise auf den Attentäter Tobias R. seien im Vorfeld ignoriert worden. Seit der Tat würden die Angehörigen nicht auf dem Laufenden der Ermittlungen gehalten.

Das Verhältnis zu Bürgermeister Kaminsky ist derweil besser. Böse Absicht unterstellte ihm die I19F nicht – eher Angst vor kritischen Reaktionen. „Er hat ja schließlich die Verantwortung für die ganze Stadt, nicht nur für uns“, sagte eine Angehörige. Andere fanden, Kaminsky hätte seinen Ermessensspielraum zugunsten der Demonstration nutzen müssen. „Das Infektionsrisiko ist bei Veranstaltungen unter offenen Himmel nicht so groß, das weiß man mittlerweile“, meinte einer der Aktivisten. Schließlich habe man sich intensiv mit der Stadt über die nötigen Infektionsschutzmaßnahmen ausgetauscht.

Die Angehörigen erhalten von Behörden nur wenige Infos

Trotz des Demoverbots hatte die I19F Kaminsky nicht ausgeladen. „Das Verhältnis ist weiterhin gut, es gab am Samstagmorgen ein Treffen“, sagte I19F-Sprecher Mario Neumann. Kaminsky stand während der Kundgebung vorn im Publikum, in der Hand ein „Erinnerung“-Schild, verzichtete aber auf seinen Beitrag. „Ich wäre hier der einzige Politiker gewesen, der gesprochen hätte, und hätte angesichts unserer gestrigen Entscheidung über Corona sprechen müssen. Das halte ich für eine falsche Akzentuierung“, sagte er dem lokalen Nachrichtenportal Op-Online.

Dafür hielt Eintracht-Frankfurt-Präsident Peter Fischer eine sehr emotionale Rede. „Keine Sprache der Welt findet Worte, um diese Tat zu beschreiben, um das Leid der Angehörigen zum Ausdruck zu bringen“, sagte er. „Aber wir können laut sein und uns solidarisieren und uns gemeinsam wehren.“ Fischer hatte in den letzten Monaten viele Angehörige der Opfer besucht.

Dutzende NGOs und Medien übertrugen den Stream auf ihren Seiten. Nach Angaben der Gruppe United We Stream sahen allein bis Samstagabend rund 300.000 Menschen den Clip im Netz.

„Unser ganzes Leben ist zerstört“

Emiş GürbüzMutter von Sedat Gürbüz (†30)

„Sedat hat den Sommer geliebt. Wenn der April mal einen warmen Tag hatte, ist er sofort in Shorts und T-Shirt rausgegangen. Es war noch kalt, als er starb. Der Sommer ist jetzt bald vorbei und er hat nichts davon gesehen. Er mochte es, wenn die Erzieherinnen Geschichten vorgelesen haben. Ich habe ihm auch vorgelesen. Schneewittchen und die 7 Zwerge, Rotkäppchen, auch türkische Geschichten. (…) Sedat war unser erstes Kind. Er wäre jetzt 30 Jahre alt. Aber er liegt jetzt unter der Erde. Da, wo kein Licht hinkommt. Unser Schmerz wird täglich größer. Ich warte immer noch darauf, dass er nach Hause kommt. Ich höre ihn nicht mehr, ich sehe ihn nicht mehr. (…) Ich kann es nicht aushalten, dass mein Kind unter der Erde liegt. Auch nach dieser Tat wurden Konsequenzen versprochen, passiert ist nichts. (…) Das, was uns weggenommen wurde, diese Schuld kann niemand begleichen. Wir wollen als Menschen behandelt werden, wir leben seit 50 Jahren in Deutschland, ich habe vor der Tat mit meiner Familie gearbeitet, wir haben von niemandem Hilfe gebraucht. Dieses Land hat uns zu Opfern gemacht. Unsere Gesundheit, unser ganzes Leben ist komplett zerstört. Der Friedhof ist meine Wohnung geworden. (...)“

„Er war ein Kämpfer“

Serpil UnvarMutter von Ferhat Unvar (†23)

„Ich hätte ihm noch so vieles sagen müssen. Wir dachten ja immer, wir haben noch so viel Zeit. Wir haben so vieles erlebt, in diesem kurzen Leben meines Sohnes. (..) Ich denke so viel darüber nach, wie oft wir uns über die Schule gestritten haben. Ferhat war ein hochbegabtes Kind, sehr intelligent und sehr lebendig. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Lehrer ein Ausländerkind oft nicht akzeptieren. (…) Ich habe immer wieder zu ihm gesagt: Du musst mehr arbeiten als die anderen, weil du nicht die gleichen Chancen hast wie die deutschen Kinder. (…) Er war ein Kämpfer. Am Ende hat Ferhat seinen Abschluss an der Ludwig-Geißler-Schule gemacht, mit sehr guten Noten. Er war einer der Besten. Er wollte gern ein Studium machen und er wollte noch ein Buch schreiben, das war sein großes Ziel. (…) Unsere Kinder dürfen nicht umsonst gestorben sein. Ihr Tod muss das Ende sein, das Ende rassistischer Angriffe. Ihr Tod soll ein Anfang sein von etwas Neuem, von Schulen ohne Rassismus und von einem Zusammenleben, in dem wir alle gleiche Rechte haben. (...) Wenn wir das geschafft haben, werde ich am Grab meines Sohnes stehen und sagen: Das war dein Kampf und du hast es geschafft. (...)“

„Rassismus ist Alltag für uns“

Diana KurtovićMutter von Hamza Kurtović(†20)

„Ich will euch erzählen, wie ich die Nacht erlebt habe, in der mein Sohn ermordet wurde. Wir haben die ganze Zeit versucht herauszufinden, wo unser Sohn ist. Wir suchten überall nach ihm und nach Informationen darüber, was passiert war. Warum haben sie uns nichts gesagt, wo sie die Verletzten hingefahren haben? Warum war es so schwer, uns zu sagen: Euer Sohn ist ins Krankenhaus nach Frankfurt gebracht worden? Warum mussten wir acht Tage warten, um unseren Sohn zu sehen? (…) Die Polizisten vor Ort hätten uns was sagen müssen. Aber uns wurden keine Informationen gegeben. Wir wurden alle in eine Halle gebracht, da sollte es Informationen geben. Viele Angehörige warteten mit uns zusammen, wir haben stundenlang gewartet. Warum war es so schwer, mit uns zu sprechen? (…) Ich bin zum Entschluss gekommen, und so was gesteht man sich nur schweren Herzens ein, wir waren für die Polizisten Menschen zweiter Klasse. Ausländer, die mal wieder in eine Schublade gesteckt werden (…) Unsere Wurzeln waren der Grund für das ignorante Verhalten der Beamten. Rassismus und Diskriminierung sind Alltag für uns, obwohl wir uns erfolgreich integriert haben und uns selbst als Deutsche sehen. (…)“

„Es sind noch so viele Fragen offen“

Alija KurtovićSchwester von Hamza Kurtović(†20)

„Wir sind in den letzten Monaten damit beschäftigt gewesen, selbst Antworten auf unsere Fragen zu finden. Auf Fragen, die wichtig sind, für die Aufarbeitung, für die Klärung und für uns als Angehörige. Fragen, die uns bis heute keiner beantwortet hat. Hätte diese Tat verhindert werden können, wenn die Behörden rechtzeitig gehandelt hätten? Wurde der Staat seiner Aufgabe gerecht, für Sicherheit zu sorgen? Wie kann es sein, dass dieser Täter, der so oft auffällig war, nicht aus dem Verkehr gezogen wurde? (…)

Wie kann es sein, dass ein Täter mit einer solchen Vorgeschichte überhaupt legal Waffen besitzen kann? (…) Wurde er auf seine Zuverlässigkeit überprüft – ein Täter, der letztes Jahr zwei Mal an einem Gefechtstraining in der Slowakei teilgenommen hat und sich offenbar schon lange auf diese Tat vorbereitet hatte? Ein Täter, der dann innerhalb von 12 Minuten neun Menschen in zwei Ortsteilen kaltblütig ermordet hat. Es ist mittlerweile ein halbes Jahr vergangen und es sind noch so viele Fragen offen. Wir erwarten eine lückenlose Aufklärung, damit daraus Lehren gezogen werden. (…) Das sind wir den Ermordeten schuldig, und das ist das Mindeste, was wir tun können.“