Die Wahrheit: Mimimi mit Bandscheibe

Der Bandscheibenvorfall ist die Jugendweihe für den Nachwuchssenioren. Wer Bandscheibe hat, landet im goldenen Herbst der Frühvergreisung.

„Wer war die Bandscheibe?“, ruft die Krankengymnastin durchs Wartezimmer, und ich hebe die Hand. Ich bin nämlich neuerdings die Bandscheibe. Vor Kurzem dachte ich noch, Bandscheiben sind diese runden Dinger aus dem Baumarkt, mit denen die Heimwerker in meinem Viertel bei offenem Fenster Fliesen zersägen. Aber dann machte es knack in meiner Halswirbelsäule und mein Nervensystem zeigte jaulend einen Vorfall im Spinalkanal an, eine Kernschmelze im Schrottreaktor meiner Wirbelsäule.

Der Bandscheibenvorfall ist aber nicht nur Schmerz-GAU, sondern auch Übergangsritus, die Jugendweihe für den Nachwuchssenioren. Wer Bandscheibe hat, muss im Spiel des Lebens ein paar Felder vorrücken und landet im goldenen Herbst der Frühvergreisung. Ich zum Beispiel darf endlich mit den anderen Veteranen von der großen Lumbago-Schlacht, dem Arthrose-Feldzug und dem Scharmützel am Spinalnerv schwadronieren.

Die Bandscheibe ist die Kriegsverletzung des Sitzarbeiters, das Schrapnell im speckigen Torso des angejahrten Schreibtischtäters, und weil er ein Mann und keine Memme ist, redet er viel darüber. Frauen dagegen haben keine Bandscheiben oder ihnen fehlt die Gabe zum mimosenhaften Martyriumsmonolog des mannhaften Mimimi.

So was denke ich, während ich die anderen Wartenden im Mindestabstand umkurve, denn es ist nicht nur Bandscheibe, sondern immer noch Corona. Immerhin sind die Lädierten leichter zu umkurven als die Springteufel aus dem Supermarkt.

„Sie bewegen sich ja noch ganz flott“, lobt die Therapeutin, weil ich mit Mühe einen Rollatorgreis abgehängt habe. In den kommenden Wochen werde ich für einfachste Verrichtungen gelobt werden. Immer wenn ich das Ärmchen hebe oder das Rümpfchen beuge, wird meine Therapeutin in die Hände klatschen und betonen, wie schön ich das mache.

Doch da irrt sie, denn es ist nicht schön, wie ich bäuchlings über einem grünen Gymnastikball liege, der sich unter meinem Gewicht zu einer Gymnastiklinse verformt, und mit Extremitäten zu wedeln versuche – die Folter wird vor einem mannshohen Spiegel vollzogen. Damit ich meine Bewegungen überprüfen kann, wie es heißt. Dabei will man mich bloß brechen, um mich dann vollkommen neu aufzubauen. Denn bisher habe ich alles falsch gemacht, wie es scheint.

„Müssen Sie beruflich viel sitzen?“, fragt die Therapeutin. Ich nicke und verschweige, dass ich auch nach Dienstschluss gern einmal privat herumsitze. Manchmal habe ich im Sitzen sogar einen sitzen, so sitzverliebt bin ich. Sitzen ist eins meiner beiden liebsten Hobbys.

„Sitzen ist das neue Rauchen“, meint die Therapeutin. Ich nicke, sie hat gerade meine beiden liebsten Hobbys zu einem zusammengefasst. „Und, was machen Sie sonst so?“, fragt die Krankengymnastin. Ich schweige gekränkt. Es ist ja nichts mehr übrig von mir, was sich noch zu erzählen lohnte.

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kari

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