„Die offizielle Statistik wird optimiert“

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Alexei Rakscha

41, hat an der Moskauer Higher School of Economics Demografie studiert und bis vor Kurzem als Berater bei Rosstat, Russlands staatlicher Statistikbehörde, gearbeitet. Nach öffentlichem Anzweifeln der Zahlen der Coronatoten im Land verlor er seine Stelle.

taz: Herr Rakscha, Sie waren von Anfang an sehr skeptisch, was die offiziellen Zahlen der an Covid-19-Erkrankten und der Coronatoten in Russland angeht. Was stimmt denn nicht mit der Statistik?

Alexei Rakscha: Im März meldete man offiziell den ersten Coronatoten in Russland, in den Medien aber fanden sich bereits Meldungen über Menschen, die ebenfalls mit dem Coronavirus infiziert waren, aber offiziell an chronischen Erkrankungen gestorben waren. In Russland gibt es die Vorgabe: Jeder Gestorbene, der positiv auf Corona getestet wird oder bei dem der Verdacht besteht, er oder sie könnte mit dem Virus infiziert sein, wird obduziert. Finden die Pathologen eine Erkrankung – Diabetes, Gefäßerkrankungen, Herzprobleme –, so ist der Tote automatisch kein Coronatoter.

Warum bleiben die Zahlen der Erkrankten über Wochen auf nahezu demselben Niveau?

Weil man sie glättet. Bereits im April sah man, dass in manchen Regionen mehrere Tage lang dieselbe Zahl auftauchte: immer 38, immer 72, immer 99. Über Tage hinweg. Oder das Schema wiederholte sich nach zwei Wochen. Der gesunde Menschenverstand sagt: Das kann nicht sein. Meine Hypothese: Man zählt die Zahlen über mehrere Tage zusammen und teilt sie durch die Anzahl dieser Tage, berechnet also den gleitenden Mittelwert. Die tatsächlichen Zahlen sind unbekannt. Zum einen, weil viele Behörden in Dutzenden Regionen die Sterbestatistik zu einer Geheimsache erklärt haben, zum anderen, weil die regionalen Chefs Sorge haben, schlecht dazustehen, und irgendwelche Obergrenzen ausgeben. Über diese Obergrenze tritt keine offizielle Statistik hinaus. Wenn der Moskauer Bürgermeister sagt, die Infiziertenzahlen würden sich täglich um die 700 bewegen, so bewegen sie sich – wie man seit Wochen sieht – täglich um die 700. Man behandelt uns Volk als dummes Vieh und serviert uns nur Lügen.

Wie lässt sich ein reales Bild herausfinden?

Wie es wirklich aussieht, kann niemand sagen, weil zu viel verschleiert, beschönigt, gelogen wird. Die offizielle Statistik wird quer durchs Land optimiert. Man kann lediglich mit Annahmen arbeiten. So sind Anfragen in Suchmaschinen nach typischen Krankheitssymptomen von Covid-19 kein schlechter Indikator, auch wenn die Methode ungenau ist. Etwas Besseres haben wir aber nicht. Die zuverlässigste Methode wäre die Gesamtsterblichkeit und der Vergleich zu Vorjahren. Doch in vielen Standesämtern heißt es jetzt: Die Daten seien nur für den Dienstgebrauch. Mit den Zahlen, die offen zugänglich waren oder immer noch sind, lässt sich vermuten, dass die offiziellen Infiziertenzahlen in Moskau 2,5- bis 3-mal höher sind, die Zahlen in den Regionen müssten mit fünf multipliziert werden, um ein einigermaßen rea­lis­tisches Bild zu bekommen.

Dramatische Aufnahmen wie aus Italien oder aus New York gab es aus Moskau nie. Was hat Russland eigentlich richtig gemacht?

Die Bevölkerungsstruktur in Russland unterscheidet sich sehr von Italien oder den USA. Solche alten und kranken Menschen, wie es sie dort gegeben hat, gibt es bei uns kaum. Die Menschen hier sterben schon früher, vor allem die Männer. Zudem hat die Führung mit der Umprofilierung vieler Krankenhäuser, dem Bau von speziellen Infektionskrankenhäusern richtig reagiert. Auch die Selbstisolation hat geholfen, auch wenn sie löchrig war.

Interview: Inna Hartwich