Für den Rausch darf’s auch mal wehtun

HEILIGER NOISE Michael Gira trat mit der neuesten Inkarnation der Swans in der Kathedrale des Berghain auf. Der hünenhafte Fanatiker transzendentaler Ganzkörpererfahrung aus New York feiert die spirituelle Seite des Lärms

Nach dem Auftritt der Swans berichten ihre Jünger von Herzrasen und Gleichgewichtsstörungen

VON ANDREAS BUSCHE

Michael Gira klingt stolz wie ein Papa, wenn er über „The Seer“ spricht. Dreißig Jahre, sagt er, hätten die Arbeiten am zwölften Swans-Album gedauert. Damit delegiert er sein bisheriges Schaffen, zu dem immerhin so epochale Alben wie „Filth“, „Children of God“, „Soundtracks for the Blind“ sowie dreizehn Jahre unter dem Alias Angels of Light gehören, in den Status eines bloßen Nebenwerks. In den USA gilt Gira spätestens seit seiner Förderung der New Weird America-Szene um Devendra Banhart und die Akron/Family als Respektsperson. Sein Wort ist mächtig (als Schriftsteller wie als Musiker), seine physische Erscheinung ehrfurchtgebietend: ein Hüne mit langen grauen Haaren, Pranken wie ein Bär und einer Stimme wie Donnergrollen.

So machte er zu Beginn der achtziger Jahre im New Yorker Noise-Untergrund auf sich aufmerksam, am Übergang vom No Wave zum stilbildenden Noiserock von Sonic Youth und Big Black. Auf „Filth“ und „Cop“ benutzte er seine Stimme noch als perkussives Instrument. Sein gepresstes Brüllen klang qualvoll und karthartisch, unisono zum martialischen Stampfen von Gitarre, Bass und Schlagzeug, die den Groove einer Dampframme besaßen. Wer damals in den Genuss einer Swans-Show gekommen ist, hat den hochroten Kopf Michael Giras nie wieder vergessen.

Man muss es also ernst nehmen, wenn Gira behauptet, dass er auf sein neues Album dreißig Jahre lang hingearbeitet habe. Tatsächlich klingt „The Seer“ wie die Quintessenz der Swans, ein expansiver Klangkörper, stellenweise so dicht arrangiert, dass kein Laut mehr in die fein verwobenen Strukturen von Gitarre, Bass, Schlagzeug, Steel Guitar, Orgel, Cello, Gong, Flöten und selbst gezimmerter Dulcimer passt. Gleichzeitig öffnen sich die psychedelisierenden Dissonanzen immer wieder für überraschend filigrane Folk-Harmonien, die Gira mit der Stimme eines alttestamentlichen Predigers amplifiziert. Gibt es einen besseren Ort für die Aufführung eines solch raumfassenden und komplexen Meisterwerks als die Klangkathedrale des Berghain mit seiner maßgeschneiderten Funktion-One-Anlage?

Wer am vergangenen Freitag allerdings in Erwartung eines beschaulichen Konzertabends mit vielen neuen Swans-Songs ins Berghain gekommen war, sah sich getäuscht. So wie sich das Gesamtwerk Giras ständig im Fluss befindet, ist auch „The Seer“ längst in einen neuen Aggregatzustand übergegangen. Der prozessuale Charakter des Albums ist besonders im halbstündigen Titelstück und dem finalen „The Apostate“ unüberhörbar. Live lösten sich auch die ruhigeren Passagen, die in der nuancierten Produktion von „The Seer“ noch Songstruktur, Drone und die strammen Rhythmuscluster zueinander führen, in einer Wand aus ohrenbetäubendem, skulpturalem Lärm auf.

Gira verzichtete zugunsten einer transzendentalen Ganzkörpererfahrung auf feine Zwischentöne. Bereits vor dem Auftritt hatte er sich über die Warnschilder des Veranstalters bezüglich des zu erwartenden Lautstärkepegels beschwert. Gira versteht Lautstärke als integralen Aspekt einer spirituellen Erfahrung. Entsprechend erinnern Swans-Konzerte immer ein wenig an rituelle Zeremonien.

Allein Michael Gira performen zu sehen, ist schon ein Ereignis. Er spielt seine Gitarre mit vollem Körpereinsatz, besingt die Genese des menschlichen Geistes durch Schmerz, zuckt besessen im Feedbackrausch, stimmt auf seiner Mundharmonika ein paar mutierte Walgesänge an und scheißt seine Mitmusiker mehrmals zusammen (einmal mit einer vielsagenden Kotzgeste in Richtung Schlagzeug), wenn diese ihm nicht mit letzter Konsequenz in den Swans-typischen Zustand körperlicher Ekstase folgen wollen.

Gira ist ein Fanatiker wie er Buche steht, er hat aber auch ein paar ansprechende Mitstreiter um sich versammelt. Einen stämmigen Wikinger namens Thor zum Beispiel, der Gong und anderes Metallschlagwerk bearbeitet, auf einer selbst gebauten Violine schabt und zwischendurch eine Klarinette malträtiert. An Schauwerten mangelt es an diesem Abend also nicht. Ähnlich beeindruckend sind allenfalls die Erfahrungsberichte der Swans-Versehrten, die nach dem Auftritt von Herzrasen und kurzzeitigen Gleichgewichtsstörungen sprechen. Dabei sein ist bei den Swans alles; die Idee der Immersion, des Eintauchens, gehört neben der Wiederholung zu den grundlegenden Prinzipien ihrer Konzerte. Das sind Qualitäten, die jede Form sakraler Musik auszeichnet.

■ „The Seer“ erscheint am 28. August auf Young Gods Records. Eine Tour folgt im Herbst