Coronakrise im Pflegeheim: 100 Tage Einsamkeit

Die Mutter unserer Autorin lebt im Kreuzberger Pflegeheim. Die Corona-Isolation setzt ihr so sehr zu, dass ihre Tochter sie kaum wiedererkennt.

Jüngere Frau hält Hände einer älteren Frau

Auch die schlichte Nähe beim Händehalten war lange Zeit nicht möglich Foto: Bernat Armangue/ap/dpa

BERLIN taz | Drei Monate fast habe ich meine Mutter im Pflegeheim nicht besuchen dürfen. Ausnahmsweise sitze ich ihr beim Arzt gegenüber und erkenne sie nicht mehr. Ihr Blick ist trübe geworden, die Augen eingefallen, der Teint fahl. Kein Lippenstift, kein Rouge aufgetragen, sonst geht sie ohne nicht aus dem Haus. Ich will nicht wahrhaben, dass die gebeugte Gestalt meine Mutter ist, mit diesen Streichholzbeinchen, wie eine Magersüchtige mit zu großem Kopf. Das Unterhemd schlottert, sie schämt sich, es auszuziehen. Die weißen Arme sind fleckig, vernarbt von Wunden und Kratzspuren der Entzündungen, die infolge allergischer Reaktionen durch starke opioide Schmerzmittel entstehen.

Meine Mutter lebte bereits zwei Jahre in einem Kreuzberger Pflegeheim, als das neuartige Virus Sars-CoV-2 sich verbreitete. Die soziale Isolation hat sie apathisch gemacht, als hätte jemand den Stecker gezogen. Schon vorher hat sie einiges durchgestanden: einen schweren Schlaganfall mit anschließendem Koma, einen weiteren Hirninfarkt, einen Herzstillstand mit Wiederbelebung. Sie hat eine halbseitige Lähmung zurückbehalten, sitzt im Rollstuhl und wollte doch immer leben.

Nach alldem frage ich mich jedoch, ob sie schlussendlich im Heim verhungern wird, weil ihre Bedürfnisse nicht zählen angesichts des Schutzbedürfnisses all der anderen. Ich werfe alle Abstandsregeln über Bord, traurig, dass dieser sterile Ort – das Arztzimmer – der einzige ist, wo ich sie in den Arm nehmen und streicheln kann. „Ich vermisse meine Therapeuten“, sagt sie. Von Tag zu Tag verkürzen sich ihre Sehnen in den gelähmten Gliedmaßen, von Tag zu Tag nimmt der Schmerz zu, weil sie nicht bewegt werden. Ein Termin bei einem neuen Spezialisten für Schmerztherapie und Hanfmedizin ist aufgrund der Pandemie abgesagt worden.

Nach anfangs massiven Kontaktbeschränkungen für Senior*innen in Pflegeheimen, gegen die viele Angehörige, aber auch Heimbetreiber*innen heftig protestiert hatten, hat die Gesundheitsministerkonferenz im Juni beschlossen, „den Bedürfnissen der Bewohnerinnen und Bewohner nach sozialen Kontakten deutlich mehr Gewicht einzuräumen und bestehende Spielräume auszuschöpfen“. In Berlin hat die Senatsverwaltung für Gesundheit und Pflege ein entsprechendes Schutz- und Hygienekonzept entwickelt.

Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeheimen dürfen demnach aktuell täglich Besuch von bis zu drei Personen empfangen, wobei die maximale Besuchsdauer festgelegt werden darf und die Abstandsregeln einzuhalten sind. Auch Ehrenamtlichen und Seelsorger*innen ist das Betreten der Einrichtungen gestattet.

Ausgenommen sind Menschen mit Atemwegsinfektionen. Im Falle einer bestätigten Covid-19-Infektion in der Einrichtung kann deren Leitung allerdings Besuche einschränken oder ein Besuchsverbot festlegen.

Auch das kurzzeitige Verlassen der Einrichtungen ist den Bewohnerinnen und Bewohnern erlaubt.

Hospize sind von der Eindämmungsverordnung ausgenommen, sie unterliegen keinen Besuchseinschränkungen mehr. Es gelten die Hygienevorschriften (Mundschutz, Abstand), von denen bei Unterbringung in Einzelzimmern aber abgesehen werden kann.

Tagespflegeeinrichtungen sollen eine Notbetreuung über die Hälfte der Plätze anbieten für: Pflegebedürftige mit Angehörigen in systemrelevanten Berufen, Pflegebedürftige, deren Versorgung ohne Tagespflege nicht sichergestellt werden kann, Pflegebedürftige, deren Versorgung ohne Tagespflege besonders schwierig ist.

Alle Pflegeeinrichtungen und ambulanten Pflegedienste müssen Schutz- und Hygienekonzepte erstellen. Beschäftige, Bewohner- und Besucher*innen müssen Mund-Nasen-Bedeckungen tragen.

Bei Konflikten zu Besuchsregelungen empfiehlt die Senatsverwaltung für Gesundheit und Pflege, sich an die Heimaufsicht zu wenden: heimaufsicht@lageso.berlin.de

Telefon: (030) 90229 – 3333

Mein Telefon steht nicht mehr still, ständig bekomme ich Anrufe aus dem Heim, und oft gehe ich schon gar nicht mehr ran. Entweder ist sie wütend, oder sie weint. Ich erfahre von ihrem Bulimie-Anfall. Sie hatte sich die Zahnbürste in den Rachen gesteckt, um das Essen herauszuwürgen. Zu Anfang des von der Pflegeleitung verordneten Besuchsverbots im Heim glaubte sie vielleicht, ihre Wut würde allen Angst machen und sie könnte einen Besuch ihrer Tochter erzwingen.

Von Tag zu Tag seltsamer

Die Ärztin im Haus will sie auf Demenz untersuchen lassen, dabei zeigte sie bislang keinerlei Anzeichen für eine Verwirrung oder starken Realitätsverlust. Doch ihr Verhalten wird von Tag zu Tag seltsamer, was beängstigend ist.

Sie behauptet, es würden Dinge aus ihrem Zimmer verschwinden. Mal ist es ein Spiegel, mal eine Ananas oder eine Tablette. Sie verdächtigt das Pflegepersonal, sie zu bestehlen, und streitet ständig über Kleinigkeiten. Gehässig und bitter ist sie geworden, denke ich, die Pflegerinnen und Pfleger sind erschöpft, das höre ich heraus, wenn ich mit ihnen spreche.

Die Situation eskaliert, als sie randaliert, eine Vase an der Wand zerschmettert. „Ich bringe mich um, wenn sie mich nicht rauslassen“, schreit sie ins Telefon. Sie knallt den Hörer auf, weil ich ihr nicht helfen kann. Aus Verzweiflung nimmt sie ein Messer und schneidet sich ins Bein.

Es folgt ein kurzer Aufenthalt in der Psychiatrie, danach hat sie mit ernsthaften Atemproblemen zu kämpfen, sodass sie eines Nachts mit hohem Blutdruck auf der Kardiologie im Urbankrankenhaus eingeliefert wird. Um operiert zu werden: Es müssen Stents gelegt werden, da die Herzklappen nicht mehr gut schließen. „Ich habe mich einfach so aufgeregt“, sagt sie später. Eine weitere Herz-OP wird verschoben, die sie aufgrund ihrer schlechten Verfassung wahrscheinlich nicht überleben würde.

Ohne soziale Kontakte

Bei der Entlassung wird ein Coronatest mit negativem Ergebnis durchgeführt. Trotzdem landet sie im Pflegeheim in einer zweiwöchigen Quarantäne („Sie könnte sich ja auf dem Transport beim Sanitäter angesteckt haben“). Zwei Wochen ohne soziale Kontakte, außer zum Pflegepersonal – für meine Mutter wohl das Schlimmste, was sie bisher erlebt hat. Obwohl der Kardiologe im Urban bei Einhaltung aller Hygiene- und Abstandsregeln einem Besuch von Angehörigen im Heim zugestimmt hat, als ich ihn nach seiner Einschätzung bat, obwohl sich das zuständige Gesundheitsamt in Kreuzberg der Arztmeinung angeschlossen hat.

Alle wünschen sich Normalität und Alltag zurück, doch zu welchem Preis? Die Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts für Pflegeheime und Risikogruppen sind sinnvoll, da Pflegebedürftige ganz besonders betroffen sind und ein Drittel aller Covid-19-Toten ausmachen. Die Verantwortung für sie wird in der Praxis allerdings auf die Heimleitungen abgewälzt, nicht anders sind die unterschiedlichen Handhabungen des Besuchs- und Ausgangsrechts in den verschiedenen Heimen in einem einzigen Bundesland zu erklären. Verständlich, die Heimleitung muss sowohl Sorge für die Patienten als auch für das Personal tragen. Sie ist es im Ernstfall ja auch, die schlechte Presse und die Angehörigen fürchten muss, wenn Bewohner sich infizieren und zuhauf sterben, wie in mehreren Heimen in Deutschland bereits geschehen.

In den Medien reden viele über die Alten. Selten jedoch Betroffene selbst. Wie auch, keine andere Bevölkerungsgruppe ist so abgeschottet, kaum eine hat so wenige Fürsprecher in Coronazeiten. Trotz aller gut gemeinten Mahnungen – es sei ethisch nicht vertretbar, alte Menschen sozial vollständig zu isolieren – passiert in vielen Heimen Deutschlands genau das.

Auf der Website der Interessenvertretung der Pflegebetroffenen (biva) steht über Besuchsverbote: „Im Falle einer bestätigten Covid-19-Infektion in der Einrichtung kann die Leitung der Einrichtung im Rahmen einer Gefährdungsabschätzung für die Bewohnerinnen und Bewohner, an der das zuständige Gesundheitsamt zu beteiligen ist, die Besuchsregelung nach Satz 1 einschränken oder ein Besuchsverbot festlegen.“ Das Hausrecht gewährt der Pflegeheimleitung einen undefinierten Spielraum für Entscheidungen, da es keine eindeutigen Regelungen auf Länder- und Bundesebene gibt. Dazu untersagt sie Heimbewohner*innen den Ausgang. Auch das, obwohl sie dazu keine Befugnis hat.

Mittlerweile gibt es im Pflegeheim meiner Mutter wieder eine eingeschränkte Besuchserlaubnis. In einem abgegrenzten Raum sind wir durch zwei Tische drei Meter voneinander entfernt. Die Tür steht offen, es bleibt unpersönlich, da helfen auch die Blümchen auf dem Tisch nicht. Ich muss sehr laut sprechen, da meine Mutter schwerhörig ist, und bin nicht sicher, was bei ihr ankommt.

Alles, was ich mitbringe, jeder Gegenstand muss desinfiziert werden. Der leckere Kuchen muss wieder mit nach Hause, da er zwar in Plastik verpackt, aber nicht eingeschweißt ist. Jetzt steigt in mir die Wut auf, die ich gleich zu unterdrücken suche. Dennoch werde ich den Verdacht nicht los, dass manche Verbote Schikanen sind. Ich bin immer in der Klemme zwischen Helfenwollen, schlechtem Gewissen, Apathie und Stillhalten und will die Pflegeheimleitung nicht verärgern. Ich weiß, welchen Beitrag die Pflegekräfte leisten, und mag mich nicht ständig beschweren. Eigentlich dürfte ich meine Mutter täglich besuchen. Eigentlich, so steht es in den Pandemie-Verordnungen des Berliner Senats. Doch es fehlt an Personal, um diesem Bedürfnis der Angehörigen zu entsprechen. So bekomme ich zehn Tage keinen Besuchstermin.

Ich glaube, meine Mutter hat bislang durchgehalten, weil die neuen Medikamente sie ruhigstellen. Jedenfalls klagt sie nicht mehr, auch höre ich nichts mehr davon, dass sie wütend ist. Ist der Spuk vorbei? Oder beginnt bald alles wieder von vorn?

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