Prozess gegen Halle-Attentäter: Kein Einzeltäter

Es mit einem Urteil in Magdeburg gut sein zu lassen wäre falsch. Die Bedrohung von Rechts bleibt für viele Menschen real.

Zwei Fotos der Opfer des Anschlags von Halle stehen vor dem Landgericht in Magdeburg

Am 9. Oktober 2019 wurden in Halle zwei Menschen erschossen Foto: Jonas Woitas/dpa

In Magdeburg steht der Attentäter von Halle vor Gericht. Der Mann, der im Oktober am jüdischen Feiertag Jom Kippur erst ein Massaker in der Synagoge von Halle anrichten wollte, dann eine Passantin auf der Straße erschoss und anschließend einen Mann in einem Dönerimbiss, wird zu einer langen Haftstrafe verurteilt werden. Großes Aufatmen, endlich kehrt wieder Ruhe und Ordnung ein. Für manche Menschen in diesem Land zumindest – für viel zu viele aber nicht.

„Wie konnte es so weit kommen?“ Diese Frage war „nach Halle“ allenthalben zu hören. Von einem „Alarmzeichen“ sprach CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer, von „Entsetzen“ Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Aber antisemitische Gewalt ist in Deutschland nicht neu, im Gegenteil. In seinem gerade erschienenen Buch „Terror gegen Juden“ listet der Autor Ronen Steinke auf 90 Seiten eine Chronik antisemitischer Gewalt seit 1945 auf. Der Attentäter mag allein gehandelt haben, aber er war nicht allein.

Nicht nur radikalisierte er sich anscheinend in einer von Hass durchsetzten Online-Community – sondern auch in einem Land, dessen gesellschaftlicher Diskurs nach rechts sperrangelweit offen steht und das vor mörderischen Zusammenhängen die Augen verschließt. Der Mörder von Halle übertrug seine Tat ins Netz. Er wollte Anerkennung und war überzeugt, dass er sie bekommen würde.

Dass er so dachte, liegt längst nicht nur an Neonazis, sondern auch an Menschen, die als „besorgte Bürger“ von „Islamisierung“ und „Überfremdung“ reden. An Menschen, die eine immer selbstbewusstere Vielfalt in Deutschland – sei es in Sachen Herkunft, Religion, sexueller oder geschlechtlicher Identität – als Bedrohung für die „deutsche Kultur“ empfinden.

Wer „Überfremdung“ sagt, macht sich mit schuldig

Die meisten dieser Menschen würden niemals eine Waffe zur Hand nehmen, viele haben sicher mit Entsetzen auf die Tat in Halle reagiert. Trotzdem sorgen sie mit ihrer Haltung für den fruchtbaren Boden, auf dem solcher Hass mit einem solchen Selbstbewusstsein wächst. Es darf deshalb nicht wieder Ruhe und Ordnung einkehren. Es muss endlich Aufruhr herrschen. Sich allein auf diesen einen Täter und den Anschlag in Halle zu fokussieren, greift zu kurz.

In einem Beitrag der linken Videojournalismus-Plattform Left­vision sagt eine Frau, die den Anschlag in der Synagoge erlebt hat: Es sei es leicht, mehr Polizei vor Synagogen zu stellen und zu sagen: „Die Juden und Jüdinnen sind sicher. Problem gelöst.“ Doch das reiche nicht. Der Täter war nicht nur Antisemit, er war auch Rassist und Antifeminist. Das ist kein Zufall: Wenn von „gesteuerter Überfremdung“ die Rede ist – dann muss es im Hintergrund jemanden geben, der steuert.

Wenn von „Geburtenkrieg“ die Rede ist, dann hat jemand den perfiden Plan, die Geburtsraten zu manipulieren – so dass christliche, weiße Frauen weniger Kinder bekommen und muslimische Frauen of Color mehr. So ist der Anschlag von Halle nicht zu trennen vom Mord an Walter Lübcke, nicht von dem rassistischen Anschlag in Hanau, bei dem ein Rassist neun Menschen in und um Shisha-Bars erschoss, und auch nicht von den Drohschreiben des NSU 2.0, von denen ganz besonders linke und Frauen of Color betroffen sind.

Nur ganz bestimmte Menschen in Deutschland können es sich leisten, sich nach dem Urteilsspruch in Magdeburg zurückzulehnen und zu sagen: Zum Glück ist dieses Monster hinter Gitter, das normale Leben kann weitergehen. Das Monster kam nicht aus dem Nichts, und die Bedrohung ist für so viele Menschen in diesem Land real. Für Jüdinnen und Juden, für Migrant*innen, für People of Color. Für Queers. Für Frauen.

Es reicht deshalb nicht, wenn Hessens Innenminister Peter Beuth einen Sonderermittler einsetzt, der feststellen soll, ob es ein rechtes Netzwerk in der hessischen Polizei gibt. Die Fragen müssen endlich lauten: Wo gibt es dieses Netzwerk – und wie können wir es zerschlagen.

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leitet das Inlandsressort der taz. Davor war sie dort seit Oktober 2018 Redakteurin für Migration und Integration und davor von 2016-17 Volontärin der taz Panter Stiftung. Für ihre Recherche und Berichterstattung zum sogenannten Werbeverbot für Abtreibungen, Paragraf 219a StGB, wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Im März 2022 erschien von Gesine Agena, Patricia Hecht und ihr das Buch "Selbstbestimmt. Für reproduktive Rechte" im Verlag Klaus Wagenbach.

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Rechtsextreme Terroranschläge haben Tradition in Deutschland.

■ Beim Oktoberfest-Attentat im Jahr 1980 starben 13 Menschen in München.

■ Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) um Beate Zschäpe verübte bis 2011 zehn Morde und drei Anschläge.

■ Als Rechtsterroristen verurteilt wurde zuletzt die sächsische „Gruppe Freital“, ebenso die „Oldschool Society“ und die Gruppe „Revolution Chemnitz“.

■ Gegen den Bundeswehrsoldaten Franco A. wird wegen Rechtsterrorverdachts ermittelt.

■ Ein Attentäter erschoss in München im Jahr 2016 auch aus rassistischen Gründen neun Menschen.

■ Der CDU-Politiker Walter Lübcke wurde 2019 getötet. Der Rechtsextremist Stephan Ernst gilt als dringend tatverdächtig.

■ In die Synagoge in Halle versuchte Stephan B. am 9. Oktober 2019 zu stürmen und ermordete zwei Menschen.

■ In Hanau erschoss ein Mann am 19. Februar 2020 in Shisha-Bars neun Menschen und dann seine Mutter und sich selbst. Er hinterließ rassistische Pamphlete.

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