Rüttelt Schwarz-Gelb die sozialen Bewegungen auf?
JA

PROTEST In Deutschland regieren demnächst Union und FDP. Gentechnik, Sozialkürzungen, Atomkraft – die Gegner dieser Regierung hoffen auf Unterstützung

Frank Bsirske, 57, ist Vorsitzender der Dienstleistungsgewerkschaft

Ver.di

Wir müssen damit rechnen, dass soziale Auseinandersetzungen sich zuspitzen. Die entscheidenden politischen Themen haben im Wahlkampf von CDU, SPD und FDP doch kaum eine Rolle gespielt: Wer bezahlt die Zeche – die Verursacher oder die Opfer der Krise? Wie bringen wir den sozialen und ökologischen Umbau voran? Wie bekommen wir die entfesselten Finanzmärkte in den Griff? Stattdessen: Viel Merkel statt CDU, wenig Steinmeier und vor allem Steuersenkungsgerede. Nun haben wir die Bescherung: Das Programm der FDP lautet: Steuern runter, den Sozialstaat aushöhlen, mehr Industrieförderung, weniger Arbeitnehmerrechte, weniger Umweltschutz und vor allem: kein wirksames Rezept gegen Lohndumping. In der Wirtschaftskrise wird dieses Programm die Probleme nicht lösen, sondern eher verschärfen. Die Verteilungskämpfe drohen sich zuzuspitzen. Es ist Zeit, aufzustehen!

Franziska Heine, 30, Mitglied im AK Zensur, initiierte eine Petition gegen Internetsperren

Für mich wird ganz klar genau das passieren. Menschen werden sich außerhalb der Politik engagieren. Sie werden stärker als bisher versuchen, Themen, die sie bewegen, voranzutreiben und Dinge, die sie nicht wollen, zu verhindern. Vor allem bei Eingriffen in bürgerliche Freiheiten werden die Menschen die FDP daran erinnern, ihren in der Opposition gemachten Aussagen Taten folgen zu lassen. Man kann jetzt schon in Blogs und auf Twitter genau das lesen. Bei Themen wie der Vorratsdatenspeicherung und Überwachung der Bürger ist die FDP deutlich anders positioniert als die CDU. Es wird sehr genau geschaut werden, wie sehr man sich auf die Worte der FDP-Politiker verlassen kann. An den Worten wird man sie messen – in Blogs und Foren und, wenn es sein muss, auch auf der Straße.

Jochen Stay, 44, lebt im Wendland, ist Sprecher der Anti-Atom-Organisation „ausgestrahlt“

Es rüttelt gewaltig! Schon am Morgen nach der Wahl ging es los: Das Telefon bei „ausgestrahlt“ steht nicht mehr still, das E-Mail-Postfach quillt über. Unser Offener Brief an Merkel und Co. wurde innerhalb der ersten 24 Stunden von 25.000 Menschen unterzeichnet. Darin heißt es: „Sollte Ihre Regierung den Atomausstieg nicht endlich vollziehen, werden wir uns an den zu erwartenden, massiven Protesten der Anti-Atom-Bewegung beteiligen.“ Weil Atomkraft am 27.9. nicht abgewählt wurde, bleibt nur noch der Druck von der Straße. Merkel hatte schon als Umweltministerin ihre Not mit der Anti-AKW-Bewegung: Sie musste alle Atomtransporte stoppen, weil der Widerstand nicht mehr zu stoppen war. Daran erinnern sich jetzt viele, und das macht Mut. Ich bin zuversichtlich.

Roland Roth, 60, Politologe, ist Autor von „Die Sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945“

Drei Gründe sprechen für einen Aufschwung bewegter Proteste: Erstens wird Schwarz-Gelb, gedrängt von der FDP, darangehen, einige Wahlversprechen umzusetzen. Dies könnte die bereits wiedererwachte Anti-AKW-Bewegung anfeuern. Ebenso könnte es erneute Sozialproteste auslösen, wenn zum Beispiel Steuergeschenke an Spitzenverdiener durch Kürzungen bei Sozialleistungen gegenfinanziert werden. Zweitens werden in der kommenden Legislaturperiode die offenen Rechnungen für die Ausplünderung der öffentlichen Kassen zur Bankenrettung und für die Konjunkturprogramme der letzten Regierung präsentiert. Nicht nur dem Bund, sondern vor allem Kommunen und Ländern blühen massive Einschränkungen im Sozial- und Bildungsbereich. SchülerInnen und Studierende haben erst kürzlich gezeigt, dass sie mobilisierungsfähig sind. Schließlich werden, drittens, die Oppositionsparteien bei passender Gelegenheit außerparlamentarische Proteste unterstützen, schon um ihren eigenen Einfluss zu steigern.

NEIN

Norbert Bolz, 56, ist Medienwissenschaftler und lehrt an der Technischen Universität Berlin

Ein Gespenst geht um in Deutschland: das Gespenst des sozialen Kahlschlags durch Schwarz-Gelb. Im Wahlkampf hatte es vielleicht noch einen polemischen Sinn, nach der Wahl jedoch ist es nur noch ein Kinderschreck. Das müsste eigentlich auch dem denkfaulsten Linken einleuchten. Denn er müsste sich nur klarmachen, dass Frau Merkel ihr Wahlziel nicht erreicht hat – nämlich die Fortsetzung der großen Koalition. In der großen Koalition konnte Frau Merkel ihr eigentliches Projekt viel besser verstecken als jetzt im Bündnis mit der FDP: die Verwandlung der CDU in die führende sozialdemokratische Partei. Denn es gibt keinen Zweifel: Die CDU umarmt die Sozialdemokratie. Wie soll man da überhaupt noch opponieren? Wer gegen die neue Merkel-CDU war, hat FDP gewählt. Was nun kommen wird, ist leicht vorauszusagen: Die FDP bekommt viele Ministerposten, darf ein paar Bürgerrechte gegen den Überwachungsstaat retten. Vielleicht kann sie auch ein paar kosmetische Korrekturen am Steuerrecht vornehmen. Das ist alles. Die gesamte Linke ist in der Opposition gelandet – jetzt müsste eigentlich die Zeit der Reflexion da sein. Ihre Fans sollten sich nicht sofort wieder aus dieser Reflexion in den Protest flüchten. Das erzeugt zwar schöne, fernsehtaugliche Ornamente, aber keine andere Politik.

Jana Petersen, 43, lebt in Berlin, arbeitet im Medienbereich und hat ihren Beitrag auf taz.de gestellt

Es wäre ja schön, wenn die sozialen Bewegungen unter einer schwarz-gelben Koalition stärker würden. Nur: Ich glaub nicht dran. Denn die Erfahrung zeigt: Wenn sich bei den Wahlen die Mehrheiten nach rechts verschieben, stärkt das nicht die linke außerparlamentarische Opposition, sondern schwächt sie. Das war auch zu Beginn der letzten schwarz-gelben Regierung 1982 so: Die Friedens-, Anti-Atomkraft- und Hausbesetzerbewegungen verschwanden zwar unter der Regierung Kohl nicht gleich, ihre Blütezeit aber war vorbei. Die Hochkonjunktur der Bewegungen war zu Zeiten der SPD/FDP-Regierung. Unter einer schwarz-gelben Koalition rückten diese Bewegungen dann näher an SPD und Grüne heran – von der Straße in die Parlamente und auch in die Mitte. Bei der Oppositionskonstellation, die wir jetzt nach der Wahl am 27. September haben werden, dürfte genau das Gleiche passieren. Denn alle drei Oppositionsparteien werde sich die größte Mühe geben, wirklich alles zu vereinnahmen und zu sich zu holen, was da draußen protestierend herumgeistert.

Peter Zudeik, 62, Autor, wurde durch seine satirischen Wochenrückblicke im Radio bekannt

„Wir werden uns wohl auf Widerstand einrichten müssen“, heißt es in einer ersten Reaktion nach der Wahl vom „Erwerbslosen Forum Deutschland“. Sozusagen stellvertretend für all die anderen, die noch stumm vor Schreck sind. Und das ist die Botschaft: Lasst uns doch mal schauen, ob es wirklich zum Schlimmsten kommt. Vielleicht setzt die FDP ja wirklich die Verdreifachung des Schonvermögens bei Hartz IV und andere Wahlversprechen durch. Vielleicht kommt es gar nicht zu den Kürzungen bei Sozialtransfers, beim Gesundheitssystem, bei den Renten. Wenn doch, na ja, dann – großer Seufzer – „werden wir wohl müssen“. Aber eigentlich lieber nicht. Sagt’s bitte weiter: Ihr müsst. Es geht nicht anders. Schon lange nicht mehr. Die deutsche Politik ist im Wesentlichen damit beschäftigt, das System zu reparieren, das uns die Krise beschert hat. Bezahlt wird die Reparatur mit unserem Geld. Und für Soziales, Gesundheit und Renten ist dann keines mehr da. Für die Finanzierung der bald wieder grassierenden weitreichenden Arbeitslosigkeit sowieso nicht. Daran ändert keine Opposition im Bundestag etwas, und sei sie noch so tapfer. Merkt es endlich: Es ist nicht die eine oder die andere Regierung. „It’s the system, stupid.“ Auf Widerstand kann man sich nicht einrichten, man muss ihn machen, organisieren. Ihr müsst das, die Gewerkschaften müssen das, all die vielen, kleinen Einheiten an der Basis müssen das. Weil „sich“ nichts ändert, wenn wir’s nicht tun.