Diskussionskultur in Corona-Zeiten: Die Aggressionsdemokratie

Twitter und das Klima – ein neuer Forschungsgegenstand. Eine Studie zeigt: Erst ab 35 Grad ist es den meisten wieder zu heiß, um wütend zu werden.

ein Mann sitzt im Garten in einer Schüssel mit Wasser und schüttet sich Wasser über den Kopf

Noch unerforscht: wie kalte Duschen sich aufs Twittern auswirken Foto: Heinz Gebhardt/imago

„Bei kaltem Wetter bellen wir, bei heißem Wetter beißen wir.“ So der Name einer Studie, die untersuchte, wie sich die Wut in den sozialen Medien zum Wetter verhält. Schon lange ist bekannt, wie Hitze aggressivere Kriminalität fördert, doch nun veröffentliche The Conversation die Ergebnisse einer Studie von Heather R. Stevens, Petra L. Graham und anderen, die das auch für die sozialen Medien bestätigt.

Während viele ihre Social-Media-Wut als etwas Individuelles empfinden, ist längst erforscht, welchen allgemeinen Mustern sie folgt oder was sie triggert. Wir Twitter-Nutzer sind kleine Lemminge, denkt man, wenn man etwa liest: Twitter ist an Montagen am aggressivsten.

Twitter-Aggressionen und das Klima – ein recht neuer Forschungsgenstand. Höhere Temperaturen machen viele Nutzer*innen aggressiver. Erst ab 35 Grad ist es den meisten wieder zu heiß, um wütend zu werden. Eine wenig überraschende Seitenbemerkung der Studie, die in Australien durchgeführt wurde: Twitter repräsentiert nicht die Breite der Bevölkerung, sondern Akademiker*innen, Politiker*innen und Journalist*innen. Wut breitet sich in den sozialen Medien, insbesondere auf Twitter, wie ein Lauffeuer aus, eine mögliche Folge: „Temperaturwechsel und die damit einhergehende Social-Media-Wut kann die Breite der Bevölkerung beeinflussen.“

Zentrale Bedrohung nicht verpassen

Ich fange den Text so an, weil ich denke, dass wir in einer Zeit leben, in der nichts mehr ohne die Frage nach dem Klima diskutiert werden sollte. Die Zeit rennt, und während die Menschheit versucht, sich vor dem Coronavirus zu retten, vergisst sie die zentrale Bedrohung für den Planeten.

Eine Studie zeigt: Erst ab 35 Grad ist es den meisten wieder zu heiß, um wütend zu werden

Der Punkt, an dem die Katastrophe die Regie übernimmt, ist in jedem Fall zu vermeiden. Fridays for Future war ein Jahr lang drauf und dran, diesen Punkt in Klimafragen auf die Agenda der Verantwortlichen zu setzen, doch die Energie der Bewegung verpufft als Corona-Kollateralschaden.

Die Debattenkultur hat gelitten, seit #stay­at­home die Devise der Stunde war und Events abgesagt wurden. Statt über Greta Thunbergs offenen Brief #FaceTheClimateEmergency zu berichten, schluckt nun ein veganer Koch mit irren Spitznamen die Aufmerksamkeit. Die Pandemie-Eindämmungsmaßnahmen haben wohl nicht nur geschafft, die Infektionskurve zu abzuflachen, sondern auch den Diskurs.

Gräben werden noch schneller gezogen, der Neid, der eigentlich auf Facebook zu Hause war, zog auch bei Twitter ein. Die kontrollwütigen Nachbarn outeten sich schamlos. Einer Pandemie müsse man schließlich mit Vernunft begegnen. Doch sobald die Vernunft nicht konsensuale Gedanken produzierte, trat die Aggressionsmaschine in Aktion. Jakob Augstein etwa hat wirklich genervt auf Twitter, doch letztlich hat er in einer Zeit, in der noch nicht klar war, wie man die Pandemie am besten eindämmt, etwas manisch die These aufgestellt, dass auch der schwedische Weg eine Lösung sein könnte. Reaktionen darauf? Natürlich Aggression.

Nachkommentar zu Hashtags

Die Stimmung der Elitenaggression auf Twitter könne die Breite der Bevölkerung beeinflussen, so die Studie. Das ist richtig, weil Twitter für viele Journalisten inzwischen ein einfaches Mittel ist, Themenrecherche zu betreiben. Manche Artikel und Kolumnen lesen sich wie der Nachkommentar zu den „Twitter-Hashtags der Woche“. Entsprechend groß ist das Echo dann genau dort, wo die Themen gefunden wurden: auf Twitter.

Eine neue Umfrage der Hans-Böckler-Stiftung kommt zu dem Ergebnis, 39 Prozent der Bevölkerung denken, die Pandemie würde von den Reichen und Mächtigen genutzt, ihre Interessen voranzutreiben. Sofort werden die 39 Prozent besorgt pathologisiert, als wäre es nicht die Aufgabe von Journalisten und Intellektuellen, herauszufinden, wie genau Reiche und Mächtige das tun. Der ZDF-Wetter-Experte Özden Terzil etwa beklagte, dass es keinen Aufschrei gibt aufgrund der Machtverstrickungen, die Annika Joeres und Susanne Götze in ihrem neuen Buch „Die Klimaschutzlobby“ aufdecken. Ja, Reiche und Mächtige nutzen Krisen, das ist kein Verschwörungsmythos. Es ist die Aufgabe des soliden Journalismus, aufzuarbeiten und zu berichten, wie genau das geschieht. Damit Verschwörungslügner keine Lücken bespielen können.

Manchmal geraten solche Verschwörungsvideos in meine Timeline, bevor sie gesperrt werden. Es ist zum Schreien, wenn man die Reichweite dieser Videos etwa mit der Auflage renommierter Zeitungen vergleicht. Ich habe in den letzten Monaten Menschen auf „alternative Medien“ ausweichen sehen, die ich vorher für vernünftig hielt, weil sie keine Antworten auf die Fragen, die sie beschäftigten, erhielten. Die etablierte politische Öffentlichkeit spielt sich in einer immer kleineren Blase im Selbstgespräch ab.

Parteien schrumpfen

Es gibt zwar immer mehr politisches Engagement, was sich etwa an der Zahl der Stiftungsgründungen zeigt. Doch auch hier formiert sich die Elite, die auch Twitter ausmacht. Parteien schrumpfen, Optimisten sagen dazu: „Es gibt ja andere Foren politischen Engagements.“ Gibt es, ja. Doch die politischen Entscheidungen werden in einer Demokratie im Parlament getroffen. Noch immer träume ich davon, Fridays for Future würden die Parteien unterwandern, statt den Bundestag mit Aktionen zu unterhalten. Oldfashioned, ich weiß.

Doch der Aktivismus, wie er sich auf Twitter artikuliert und dessen Thesen so Eingang in die Medienlandschaft finden, verändert die Welt zwar hip, aber gefährlich langsam. Eine Studie des Politologen Oskar Niedermeyer zeigt: Außer bei den Grünen haben sich die Mitgliederzahlen fast aller Bundesparteien seit der Wiedervereinigung halbiert. Wenn die CDU durch Corona tatsächlich wieder so mächtig wird wie vor Jahrzehnten, dann diskutieren circa 50 Prozent weniger Bürger*innen den Kurs der mächtigsten Partei als früher. Vielleicht lässt sich die politische Aggression – im besten Sinn – wieder aus dem Netz und zurück in die Parteien und Parlamente holen.

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