Mehr als nur ein Kuscheltier

Vierbeiner im Unterricht können Stress abbauen und schlechte Schüler*innen zum Lernen motivieren.
Doch was zeichnet einen echten Schulhund aus? Die taz hat die Ausbildung einen Tag lang begleitet

Rund 1.000 bis 1.500 Schulhunde gibt es im deutsch­sprachigen Raum, schätzt Schulhund­expertin Beetz. Hier: Hünding „Naya“ an der Gemeinschaftsschule West in Tübingen Foto: Sebastian Gollnow/ picture alliance

Aus Frankfurt am Main Maxie Römhild

Wenn ein König den Raum betritt, wahrt er in der Regel Abstand zum Fußvolk – in Zeiten von Corona erst recht. Aber der König, der soeben in das Klassenzimmer in der Integrierten Gesamtschule IGS West in Frankfurt am Main geschritten ist, ist eben nicht irgendein Monarch. Und an diesem Donnerstag Anfang März ist die Schule auch noch ganz regulär geöffnet, von Social Distancing keine Rede.

König Casper begrüßt jede der Fünft- und Sechstklässlerinnen im Raum mit Enthusiasmus, bevor er neben dem Fenster verharrt: Ein braunes Hundebett schmiegt sich dort zwischen Schreibtisch und Tafel – dies ist gar nicht sein Reich. Und Casper ist normalerweise auch kein König. Nur heute ist er das, für eine Märchen-Lese-Aufgabe, die sich seine Besitzerin Katharina Niebisch hat einfallen lassen. Denn Casper ist ein angehender Schulhund.

In seiner Ausbildung soll er heute zeigen, dass er das richtige Gespür für die Arbeit mit Kindern hat. Für die Frankfurter Schülerinnen ist das nichts Neues, denn genau deswegen sind die Mädchen heute hier: Die Hunde-AG der IGS West dient als Übungsraum für Schulhunde in Ausbildung, die wenigen Plätze in der AG sind immer heiß begehrt.„Der Casper ist ein Kasper“, hat Niebisch die Schülerinnen zu Beginn auf ihren quirligen Collie eingestimmt. Die junge Frau ist Lehrerin an einer Schule mit Förderschwerpunkt. Ihren Hund nimmt sie dort schon mit in den Unterricht, ein bisschen Erfahrung hat Casper also bereits. Aber an der IGS West muss er sich vor besonderem Publikum beweisen. Auf der anderen Seite des Klassenzimmers sitzt Hundetrainerin Rita Reinhardt mit sieben weiteren Kursteilnehmer*innen: Leh­re­r*in­nen aus der Umgebung von Frankfurt, die wie Katharina Niebisch ihren Hund für die Schule ausbilden wollen.

Für mehrere von ihnen wird es heute ernst, denn außer Casper sollen noch zwei weitere Hunde zum ersten Mal unter Aufsicht mit den Kindern arbeiten. Wie genau die Arbeit eines Schulhundes abläuft, unterscheidet sich stark je nach Hund und Fach. Mit Sportlehrer Max Stair etwa lernen die Mädchen heute, wie man Hunde massiert. Und Linda Liebers, die eigentlich bereits pensioniert ist, ihre Hündin Skye aber für die Arbeit mit Menschen trainieren will, lässt die Schülerinnen Englisch sprechen. Dass es hier und da mit dem Verständnis ein wenig hapert, hält die Kinder nicht auf, denn sie haben keine Wahl: Liebers’ Australian Shepherd Skye spricht einfach kein Deutsch. So einfach ist das.

Ein Hund motiviere Kinder zum Lernen, auch wenn sie in dem Fach schon viele Misserfolge hatten, sagt Andrea Beetz, Schulhundexpertin und Professorin für Heilpädagogik an der Internationalen Hochschule IUBH, im Gespräch mit der taz. Besonders Schulen mit Förderschwerpunkt setzten daher immer öfter auf den Hund im Klassenzimmer. So wie auf Collie Casper. „Ich arbeite viel mit Autisten. Da hilft mir der Hund ganz stark“, erzählt Besitzerin Katharina Niebisch im Klassenzimmer der Frankfurter Gesamtschule, „Sie nehmen die Bedürfnisse des Hundes wahr und können bei ihm ganz anders Nähe zulassen.“

Wie gut sich die Hunde in der Arbeit mit Kindern machen, hängt vor allem an den Besitzer*innen. „Ich arbeite zu 99 Prozent mit Menschen“, sagt Rita Reinhardt, die seit vier Jahren Schulhunde, aber eben vor allem ihre Halter*innen in ihrer Hundeschule Side by Side ausbildet. 60 Stunden dauert die Fortbildung, seit Februar trifft sich die Gruppe mehrmals die Woche – manchmal mit, manchmal ohne Hunde.

Etwa in der Mitte der Ausbildung kam der Corona-Lockdown. Seitdem ist das Training zwar auf Eis gelegt, aber hoffentlich nicht mehr lang. Denn vor den Hunden und ihren Besitzer*innen liegen noch etwa drei Wochen Unterricht – und eine Abschlussprüfung. Rita Reinhardt hofft darauf, dass die im neuen Schuljahr abgelegt werden kann: „Jetzt in den Ferien können wir zur Planung übergehen“.

Die verschiedenen Schulen der Kursteilnehmer*innen haben der Ausbildung nach einer ersten Prüfung der Stressresistenz bereits zugestimmt. Der Einsatz von Hunden in der Pädagogik sei nicht mehr ungewöhnlich, erklärt Schulhundexpertin Andrea Beetz: „Vor zehn Jahren war das noch total problematisch. Da hatten die Schulleiter Angst vor Klagen, wenn etwas passiert.“

Heutzutage seien die meisten Sorgen ausgeräumt. Hundeallergien seien deutlich seltener als Katzenallergien und „die Wenigsten sind so allergisch, dass sie Symptome haben, wenn der Hund nur im Raum ist“. Und wenn doch, könne man das Tier eben nicht in dieser Klasse einsetzen. Die meisten gemeldeten Vorfälle mit Schulhunden seien Unfälle, bei denen ein Kind über das Tier stolpere, berichtet Beetz. Aggressivität dürfe in keiner Situation eine Rolle spielen: „Ein Schulhund sollte nie aus heiterem Himmel beißen, dann hätte er die Prüfung nicht bestehen dürfen.“

Schon in den Neunzigern nahmen Lehrer*innen vereinzelt ihre Hunde mit in die Schule. Klare gesetzliche Vorgaben gibt es aber bis heute nicht. In den letzten Jahren ist die Anzahl der Schulhunde in Deutschland stark gestiegen – und mit ihr die Fülle an Informationen und Fortbildungsmöglichkeiten. Das Vernetzungsportal Schulhundweb zählt derzeit etwa 480 Pädagog*innen, die sich selbst zu einer umfangreichen Ausbildung verpflichtet haben. Und es werden immer mehr. Andrea Beetz geht sogar davon aus, dass im deutschsprachigen Raum zwischen 1.000 und 1.500 Schulhunde im Einsatz sind.

Und nun sollen hier in Frankfurt acht weitere dazukommen. Damit die Kurs­teil­neh­me­r*in­nen in der Coronazwangspause „nicht in große schulische Löcher fallen“, verschickt Reinhardt regelmäßig Tipps zum Üben.

So soll auch Casper auf dem Stand bleiben, den er der Hunde-AG in Frankfurt Anfang März präsentiert: Unter dem Kratzen von Stiften auf Papier beginnt eine der Schülerinnen zu lesen. „Es war einmal ein König …“ – wann immer König Casper im Märchen etwas tut, soll der Kurzhaar-Collie es ihm im Klassenzimmer nachtun. Trick eins: Pfötchen geben. Trick zwei: Sitz. Und so weiter. Was für die Kinder eine witzige Leseübung ist, erfordert von Casper viel Konzentration.

„Das ist für den Hund sehr anstrengend“, sagt Rita Reinhardt. Darum sollte ein Schulhund auch keiner Vollzeitbeschäftigung nachgehen. Bestenfalls unterstützt er seine*n Be­sit­ze­r*in im Unterricht zwei- bis dreimal die Woche, halbtags. Und auch dann sollte sich das Tier spätestens nach drei Stunden Unterricht ausruhen können. Gut also, dass die Übungen mit den angehenden Schulhunden an diesem Tag nur jeweils 20 Minuten dauern.

Mit einem der angehenden Schulhunde können die Schülerinnen nur Englisch sprechen. Der Australian Shepherd Skye spricht einfach kein Deutsch. So einfach ist das

Ein Stressfaktor sind die Kinder selbst. Denn die sind unberechenbar, klein und laut und unterscheiden sich damit so stark von Erwachsenen, dass das Tier sie als eigene Art wahrnimmt. Würde man einen Hund, der noch nie mit Kindern zu tun hatte, in eine Schule stecken, „dann ist das, als würde er gerade unter Marsianer geschmissen werden“, sagt Reinhardt.

Die angehenden Schulhunde wurden deshalb entsprechend sozialisiert. Und auch die Schülerinnen der IGS West haben in der Hunde-AG schon viel über den Umgang mit den Tieren gelernt: Nach der letzten Übung des Tages setzen die Mädchen ganz selbstverständlich zum „Hundeapplaus“ an. Statt laut zu klatschen, klopfen sie sachte ihre Zeigefinger gegeneinander. Lehrerin Caroline Wallmann ist von der Rücksicht begeistert: „Wenn ich sage, dass es mir zu laut wird, dann interessiert das die Kinder nicht so sehr, wie wenn ich sage: Dem Dino ist es zu laut. Dann ermahnen die sich schon gegenseitig und sagen ‚Pscht, nicht so laut, der Hund hört das siebenmal lauter.‘ “

Und die Tiere revanchieren sich bei den Kindern, mit Empathie, Geduld und Zuneigung. Ihre Hunde mit in den Unterricht zu nehmen, beruhige, baue Ängste ab und sorge für eine angenehme Arbeitsatmosphäre, da sind sich alle Pädagog*innen an diesem Tag einig. Maßgeblich verantwortlich dafür ist das Hormon Oxytocin. Wie eine Studie im Jahr 2003 herausfand, wird es ausgeschüttet, wenn wir unsere Hände in weichem Fell vergraben. „Das fährt an der Nebenniere die Stresshormone runter“, erklärt Rita Reinhardt. Oxytocin ist sonst vor allem als Bindungshormon bekannt und kommt etwa bei Geburten zum Einsatz.

Auch ohne direkten Körperkontakt beeinflusst ein Hund im Raum unsere Stimmung, sagt Andrea Beetz. „Da sind wir so von der Evolution drauf geprägt: Wenn sich Tiere in unserer Umgebung entspannen, dann ist das ein Signal für uns: Hier ist es sicher, da können wir uns auch entspannen.“

Dementsprechend angenehm ist die Atmosphäre, als die Schulhund-Gruppe in Frankfurt zum Feedback übergeht. Für Katharina Niebisch und ihren Collie gibt es viel Lob. Besonders beeindruckt sind die anderen von dem Märchen, das ­Niebischs Förderschüler*innen dem Kasper-König auf den Leib geschrieben haben. Und davon, dass Frauchen nicht ungeduldig wurde, als der Hund mal nicht sofort kam. „Ein Hund ist auch nur ein Mensch“, sagt Rita Reinhardt, „der kann auch mal Fehler machen.“