Neues Buch zu Joy Division: Betonpanorama in Schwarz-Weiß

Das Sachbuch „Sengendes Licht“ schildert, wie Manchester den Sound von Joy Division prägte. Deren Alben wurden zuletzt neu remastered.

Die vier Musiker der Band Joy Division stehen vor einer Betonbrücke, ganz rechts Ian Curtis

Industrieromantiker vor Betonpanorama: die Band Joy Division, rechts außen Ian Curtis Foto: Kevin Cummins

Für den popsozialisierten Menschen über 40 war und ist Manchester seit Jahrzehnten der faszinierendste Ort Großbritanniens. Nicht so hochgekocht wie im hypeverrückten London, entstand im Zuge von Punk dort oben, im Norden Englands, ab den späten siebziger Jahren ein kunterbuntes Popbiotop. Bands wie The Smiths, New Order und die Happy Mondays, Labels wie Factory Records und Clubs wie die Haçienda sorgten für eine kulturelle Renaissance der Industriestadt. Man könnte diesen Prozess – etwas verkürzt – zusammenfassen als „Joy Division und die Folgen“.

Wenige Jahre zuvor muss man sich Manchester freilich als trostlosen Ort vorstellen. Zu Beginn der siebziger Jahre lag die Stadt Lichtjahre weiter entfernt von Swinging London als die 280 Kilometer, die die Großstädte voneinander trennen: eine schrumpfende Metropole im postindustriellen Niedergang, 30 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs noch immer geprägt von den Zerstörungen des „Blitz“ und dem wirtschaftlichen Niedergang Englands nach 1945.

„Bis ich … neun war, hatte ich noch keinen Baum gesehen“, erinnert sich Gitarrist und Keyboarder Bernard Sumner (Joy Division, später New Order) an seine Kindheit. „Ich war von Fabriken umgeben, und da war nichts Schönes, gar nichts.“ Zudem befand sich die Stadt im Würgegriff des berüchtigten, ultrareaktionären Polizeichefs James Anderton, der mit Vehemenz bekämpfte, was ihm suspekt erschien: speziell auch alle subkulturellen Hervorbringungen.

Ausgerechnet dorthin zog es 1979 den Londoner Musikjournalisten Jon Savage. Heimisch in Manchester wurde er nicht zuletzt, weil der soghafte düstere Sound des Quartetts Joy Division ihm die Stadt nahebrachte. 2007 war Savage federführend am Dokumentarfilm „Joy Division“ beteiligt, der atmosphärisch und sehr schlüssig einfing, was an dieser Band archetypisch Postpunk war und wie der charakteristische Grabkammernbandklang von der siechenden Atmosphäre Manchesters determiniert wurde.

Ein Panorama der Industriestadt

Nicht zuletzt wohl, weil Interviewpassagen ungenutzt blieben, hat der 66-Jährige kürzlich die Oral History „Sengendes Licht, die Sonne und alles andere“ nachgeschoben. Auf Deutsch ist die Schwarte pünktlich zum 40. Todestag von Joy-Division-Sänger Ian Curtis erschienen.

Darin erzählt Savage nicht nur die Geschichte von Joy Division, er hat ein Panorama ausgebreitet – ein Buch über die Stadt, angereichert durch zahlreiche neue Interviews. Auch mit „Sengendes Licht“ holt Savage wieder weit aus, so wie man es von seinen früheren Sachbüchern kennt, etwa von „England’s Dreaming“, der Kulturgeschichte des britischen Punk.

Savage schreibt diese so lesenswert auf, dass man auch in den Bann gezogen wird, wenn man sich nicht übermäßig für das Thema interessiert. Als Kulturkritiker versteht er es, Entwicklungen in einen sozialen und psychogeografischen Kontext zu setzen. Das gelingt ihm auch mit „Sengendes Licht, die Sonne und alles andere“ – auch wenn es manchmal fast zu sehr ins Detail geht. Die Struktur des Buchs erlaubt es aber, nach Lust und Laune weiterzublättern.

Savage überlässt Zeitzeugen das Wort: Neben den noch lebenden Joy-Division-Mitgliedern Bernard Sumner, Peter Hook und Stephen Morris kommen Akteure der Kulturszene zu Wort: Etwa der Verleger und New-Wave-Sci-Fi-Autor Michael Butterworth, der überzeugend schildert, wie Leute mit obskuren Interessen seinerzeit in kleinen Buchhandlungen zusammenkamen. Und Tony Wilson, TV-Moderator mit einem Herz für obskure Popmusik, der zum Mitbegründer von Factory Records wurde. Oder auch der Designer Peter Saville, der die unverwechselbare Coverkunst von Factory entwarf.

Silberne Wellen auf schwarzem Grund

Saville berichtet, wie es zur ikonischen Illustration des Joy-Division-Debütalbums „Unknown Pleasures“ (1979) kam: Bis heute sind die silbernen Wellen auf schwarzem Grund auf Turnbeuteln und T-Shirts zu sehen – längst entkoppelt von allem, wofür Joy Divison einst stand.

Jon Savage: „Sengendes Licht, die Sonne und alles andere. Die Geschichte von Joy Division“. Aus dem Englischen von Conny Lösch. Heyne Verlag, München 2020, 384 Seiten, 20 Euro

Joy Division: „Closer. 40th Anniversary Edition“ (Warner Music)

Savage bewegte sich seinerzeit im weiteren Umfeld der Band, die nach dem Suizid ihres Sängers Ian Curtis 1980 unter dem Namen New Order weitermachen sollte. Zum archimedischen Punkt entwickelt sich ihr Label Factory Records, trotz chaotischen Wirtschaftens war es eine erfolgreiche Plattenfirma: Neben Joy Division gehörten auch A Certain Ratio und Crispy Ambulance zu den Entdeckungen – und später auch die kommerziell äußerst erfolgreichen Happy Mondays.

Factory blieb eng mit der kulturellen Renaissance Manchesters verbandelt. Das Label sollte 1982 zudem den Club Haçienda eröffnen, der nach der Mitte des Jahrzehnts Rave etablieren half und den sogenannten „Madchester“-Sound schuf, eine treibende Fusion von Gitarrenrock und elektronischem Dance­floor.

Chaotischer Urknall

Michael Winterbottoms komödiantischer Film „24 Hour Party People“ (2002) setzte Factory und seinen Machern ein unterhaltsames Denkmal. Darin wird der erste Manchester-Auftritt der Sex Pistols im Juni 1976 als chaotischer Urknall von allem gehandelt, was fortan popkulturell in der Stadt passieren sollte – eine Lesart, der sich Savages Oral History anschließt.

Zwar bestand das Publikum der Pistols nur aus einigen Dutzend Menschen. Doch viele von ihnen sollten, angefeuert durch die kathartische Energie der Pistols, jeweils eigene Bands gründen, die die Stadt zurück auf die Poplandkarte brachten.

Die bemerkenswerteste – zunächst nannten sie sich Stiff Kittens, später Warsaw nach David Bowies elegischem Track „Warszawa“ vom „Low“-Album – sollte bald Joy Division heißen: die erste Band, die die ungebremste Energie von Punk in eine komplexere Ausdrucksform übersetzte und Songs schuf wie etwa die Single „Transmission“ (1979).

Der Song setzt mit einem Bass ein, der den Groove vorantreibt und trotzdem unheimlich klingt; dazu eine dengelige Gitarre, die die Melodie mit Nachdruck in die Gehörgänge fräst und Curtis’ lichtschluckend-monotone Stimme. Die anfängliche distanzierte Kühlheit explodiert in eine Raserei; bei allen Abgründen, die sich da auftun, funktioniert der Song auch heute noch auf dem Dancefloor.

Kokettieren mit Klischees über unglückliche junge Männer

Man muss sich Ian Curtis als belesenen jungen Mann vorstellen, durchaus mit depressiven Neigungen, aber nicht so verzweifelt, dass er nicht zugleich auch mit all den Klischees kokettierte, die die Kulturgeschichte über unglückliche junge Männer hervorgebracht hat. Todessehnsucht spielte in der Musik von Joy Division sicher eine Rolle.

Doch der Umstand, dass der 23-jährige Curtis im Mai 1980 für sich keinen anderen Ausweg sah, hat – so sehen es seine Bandkollegen – weniger mit romantischem Pathos zu tun als mit der schweren Epilepsie, an der er erkrankte, als die Band richtig durchstartete. Seinerzeit wurde diese Krankheit mit heftigen, sedierenden Medikamenten behandelt, nicht einmal seine kleine Tochter durfte Curtis mehr auf den Arm nehmen.

Die Oral History von Savage steuert jedoch nicht nur auf ein einziges, traumatisches Ende zu. Erfrischend ist etwa nachzuvollziehen, wie planlos Joy Division zu ihrem philosophisch aufgeladenen Postpunk kamen. Auch wenn ihre Ästhetik in der Rückschau hermetisch und perfekt durchdacht wirkt – am Anfang, das veranschaulichen die Interviews, stand kein Masterplan.

Langsames Herantasten an den Sound

„Sie spielten einen Rhythmus und verwandelten ihn in etwas Überirdisches“, so relativierend beschreibt der Journalist Bob Dickinson den Sound der Band, die er seinerzeit für die New Manchester Review interviewte. „Joy Division klangen wie Geister und wirkten damals gespenstisch.“ Langsam tastete die Band sich an einen Sound heran und vertonte damit nicht zuletzt den Geist ihrer Heimatstadt.

„Joy Division waren wie eine Erweiterung meines Selbst“, offenbart die Fanzine-Autorin Liz Naylor bei Savage. „Als hätten sie kollektiv die damalige Aura von Manchester transportiert.“ Zugleich, so bringt es Savage in einem Interview auf den Punkt, gelang es ihnen, „ihre Zeit und ihren Ort zu transzendieren“.

In den Ruinen einer rezessionsgeplagten Industriestadt schufen sie einen Sound, in dem Vergangenheit und Zukunft aufeinanderprallten, der maschinell und immer noch erstaunlich frisch klingt; letztes Jahr wurde das Debüt remastert wiederveröffentlicht, nun folgt das zweite Album „Closer“. Der 40. Geburtstag ihres Debüts wurde 2019 in Manchester übrigens gefeiert, indem das legendäre Cover-Artwork auf stadtprägende Gebäude projiziert und kostenlos „Unknown Pleasure“-T-Shirts in der Stadt verteilt wurden.

Joy Division, die einst aus Leerstellen weltumspannende Kunst schufen, sind längst Teil des Stadtmarketings. Es hat dazu beigetragen, dass auch in Manchester inzwischen die meisten Brachen verschwunden sind. Auf dem Gelände des ehemaligen Ravetempels Haçienda sind Luxusapartments entstanden, die sich mit dem gleichen Namen schmücken, aber für normal­sterbliche Mancunians unerschwinglich sind.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.