Matthias Lilienthal zieht München-Bilanz: Im Moment der größten Liebe

Leicht hatten es Matthias Lilienthal und die Münchner nicht miteinander. Ein Rückblick auf fünf Jahre Intendanz an den Münchner Kammerspielen.

Szenenbild aus „Wunde R“ mit Redetzki, Windischbauer, Löbau, Bozbay (v. l. n. r.) Foto: Philip Frowein

Der alte Münchner Südfriedhof wurde 1563 für die Opfer der Pest gebaut. Heute zeigen wild wuchernde Pflanzen, dass das Lebendige stets über das Tote siegt und die Zeit über alles. Dies ist ein guter Ort, um während der Coronapandemie über fünf Jahre Münchner Kammerspiele zu reden – und einer, den Matthias Lilienthal sich wünscht. Hier hat er während des Shutdowns viel Zeit mit seiner kleinen Tochter verbracht. „Als die Spielplätze geschlossen waren, war auf jedem Grab ein spielendes Kind“, sagt der scheidende Intendant.

Angesichts von Ewigkeitszeugnissen wie diesem werden fünf Jahre zu einem Fingerschnipsen und die Frage nach dem Erbe relativiert sich, über die Lilienthal zuletzt wiederholt gesagt hat, dass sie ihm angesichts der realen Bedrohung Tausender Leben und des Fortbestands der offenen Gesellschaft schnuppe sei. Ebenso schnuppe wie der vermurkste Abschied, der, sagt er, „zu einer sehr seltsamen Intendanz passt“.

Coronas wegen sind die letzten Kammerspiel-Premieren ausgefallen. Zwei davon wurden nun nachgeholt. Just an dem Tag, an dem in Bayern die Theater öffneten, kamen die Uraufführung von Enis Macis „Wunde R“ und die Installation „Oracle“ auf die Bühne.

Beide nicht für die (post-)pandemische Gesellschaft konzipiert, aber sehr gut von ihr aus zu lesen, weil sie – in hochartifizieller Formensprache – die Zerbrechlichkeit des Menschlichen thematisieren. Bei Felix Rothenhäuslers Inszenierung von „Wunde R“ sitzen vier starre Figuren um einen gläsernen Tisch, den ein Kreidekreis von 20 Zuschauern trennt.

Overkills aus psychedelischen Farben und Formen

Sie sprechen mit verfremdeten Stimmen von tragisch endenden weiblichen Vorbildern, dem Zwang zur körperlichen Selbstoptimierung, Schmink-Tutorials und der Absenz eines Wir-Gefühls, während vor ihnen perfekt geformte, quallenfarbene Törtchen schmelzen und ihnen gegen Ende als Eisschollen vor die Füße klatschen. Besagtes Ende kommt in „Wunde R“ coronaregelkonform nach einer Stunde.

Der Gang zu Susanne Kennedys Orakel ist nur 35 Minuten kurz. Die Einsamkeit – ursprünglich wäre alle sechs Minuten ein Vierergrüppchen eingelassen worden, jetzt ist man alleine – verstärkt den Grusel bei der Begegnung mit den transhumanen Gestalten, die einen in Markus Selgs verschachtelter Rauminstallation freundlich lächelnd, aber mit brüchigen Stimmen und immer wieder aussetzender Atmung zu einem KI-Orakel geleiten, dem man drei Fragen stellen kann.

Selgs Räume sind ein Overkill aus psychedelischen Formen und Farben. Beim Weg hindurch fühlt man sich wie in einer Mischung aus Geisterbahn, 3-D-Computerspiel, LSD-Trip und illustrem Initiationsritual.

Keine Ersatz-Sause im Olympiastadion

Diesen Reiz- und Wirkungs-Mash-up kennt man von Kennedy ebenso wie ihren über die Jahre intensivierten Flirt mit New-Age-Philosophien. Wobei in diesem Fall die Aufforderung zur Introspektion – das orakelte „Erkenne dich selbst!“ – und der überbordende Sinnesrausch einander an die Kandare nehmen. Reichlich bedröppelt fühlt sich der Live-Theater-Entwöhnte danach dennoch – und beeindruckt von dem Aufwand, der hier für vier Aufführungstage und eine Handvoll Besucher getrieben wurde. Länger zu spielen, geht wegen der Kurzarbeit, der beginnenden Proben von Lilienthals Nachfolgerin Barbara Mundel und der Vorbereitung der Abschiedsfeier am 11. Juli nicht.

Lilienthals Herzensprojekt, eine 24-stündige Fahrt durch die ganze Stadt mit Stationen nach Roberto Bolaños Roman „2666“, ist „an einer Mischung aus Zermürbungs-, Zeit- und Geldgründen gescheitert“, wie er ein wenig unwirsch sagt. Und die Ersatz-Sause im Olympiastadion, winkt er ab, ist gar keine. „Das wird ganz klein und ist eher der Versuch, ein paar Bilder von der Vereinzelung der Individuen in dieser Zeit zu zeigen.“

Das Ganze wird eine halbe Stunde dauern und hoffentlich mehr als die hundert Leute glücklich machen, die bis dato in bayerischen Theatern zugelassen sind. Das verwaiste Olympiastadion ist dafür groß genug – und, sagt der Intendant, „ein Lieblingsort der Münchner*innen und von mir“.

Das ist schön, denn Lilienthal und die Münchner*innen hatten es nicht immer leicht miteinander. Da war der von vielen als arrogant empfundene Auftritt der Crew um ihn, seinen damaligen Chefdramaturgen Benjamin von Blomberg und Hausregisseur Nicolas Stemann als Heilsbringer für die Hinterwäldler, da wurde die Verquickung von freier Szene und Stadttheater zum Teil nassforsch forciert. In einer Sonderausgabe des Magazins „Das Wetter“ zum Kammerspiel-Abschied Lilienthals schreibt Josef Bierbichler dazu: „Er fiel auf den Boden wie ein Stern von einem anderen Stern und wurde entsprechend behandelt.“

„50 Grades of Shame“

Das Wort von den „Jammerspielen“ kursierte in der Presse, das alte Schauspieler- wurden gegen das vermeintlich neue, aber als dilettantisch verunglimpfte Performancetheater ausgespielt und falsche Oppositionen wurden aufgebaut. Und ja, vielleicht habe auch er anfangs einige Herausforderungen unterschätzt – wie etwa, was es bedeutet, wenn sieben Personen gleichzeitig an einem Stadttheater Regie führen.

Aber Aussagen wie die eines SZ-Kritikers, She She Pops Produktion „50 Grades of Shame“ hätte ihm wohl gefallen, wenn er es in einer Freie-Szene-Spielstätte gesehen hätte, konnten Lilienthal nur bestärken. Denn sie denken die Ehrwürdigkeit der Institution Kammerspiele mit, deren „Entauratisierung“ seine Mission war.

Diese Entauratisierung hat einige abgeschreckt und ein neues Publikum angezogen. Popkonzerte und politische Diskussionen im großen Haus, arabisch sprechende Performer, junge, internationale Regisseure – das zu etablieren braucht Zeit. Lilienthal und die CSU-Fraktion im Stadtrat haben sie einander nicht gegeben. 2018 verkündete er seinen Abschied für 2020. Danach kam der Erfolg.

Er selbst spricht von drei „Kipppunkten“, die den Erfolg eingeleitet haben. Der erste war der Versuch der CSU, den Kammerspielen das Demonstrationsrecht gegen rechts abzusprechen, dem eine Solidarisierungswelle folgte. Der zweite war der erfolgreiche Auftakt der vierten Spielzeit, vor allem mit Christopher Rüpings elfstündigem Antikenprojekt „Dionysos Stadt“, das vielen den Glauben an die gemeinschaftsstiftende Kraft des Theaters wiedergab, und, als dritter Punkt, in der Kritikerumfrage der Zeitschrift Theater heute für die Auszeichnung als Theater des Jahres, die für einen wahren Chart-Sturm sorgte.

Lilienthal bald zurück in Berlin

Lilienthal kennt diese Ehre von seiner Zeit an der Berliner Volksbühne und dem HAU. Doch „die Bedeutung war in München viel größer. Seit diesem dritten Umschalterlebnis hat sich das Verhältnis der Stadt zu uns komplett geändert. Und jetzt bricht das Experiment im Moment der großen Liebe ab.“

Vielleicht ist Liebe ein zu großes, zu plüschiges Wort für das Verhältnis der Münchner zum Mann aus Berlin. Doch 85 Prozent Platzauslastung sind nicht übel. Und ein Saisonbeginn mit Arbeiten von Toshiki Okada, Anta Helena Recke, Florentina Holzinger und den im Juli wieder auf den Spielplan zurückkehrenden wilden „Räuberinnen“ Leonie Böhms boten Spaß und produktive Reibungsflächen. In dem diversen Ensemble sind einem viele junge Schauspieler wie Julia Riedler, Damian Rebgetz oder Thomas Hauser sehr ans Herz gewachsen.

Und noch? „Total gut aufgegangen ist“, sagt Lilienthal selbst, „ein deutschsprachiges Stadttheater als Mogelpackung aufzubauen, weil auf den Proben locker zu fünfzig Prozent Englisch gesprochen worden ist. Und dass wir gezeigt haben, dass sich ein Stadttheater als ein Hybrid führen lässt.“ Auch wenn die Hybridform – also die Tatsache, dass sich die Kammerspiele zugleich als internationales Festival- und Produktionshaus der internationalen freien Szene verstehen, in der Stadt nach wie vor nicht unumstritten ist.

Ende Juli geht Lilienthal zurück nach Berlin. Das Festival, das er in Beirut hätte kuratieren sollen, ist längst vom Tisch, weil es im Libanon gerade existenziellere Probleme gibt als Theater. Jetzt ist die Zukunft des Sechzigjährigen wieder offen, ein Bewerbungsschreiben aber schon unterwegs: „Eine Stadt, die mir 10 Millionen Euro im Jahr gibt und eine große Halle, in der man Projekte zwischen bildender Kunst, Kino, Theater und Performance Art frei denken kann, kann sich gerne bei mir melden.“

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