Fast 80 Millionen Babies wegen Impfstopp in Lebensgefahr

Weltweit droht das Wiederaufleben vermeidbarer Seuchen, weil die Ärmsten sich keine Vorsorgeimpfung leisten können. Kostenlose Impfkampagnen wurden auf Anraten der WHO wegen des Coronavirus eingestellt

„Ich habe Angst vor dem Coronavirus, aber noch mehr Angst vor Polio“

Leah Owuor, 39, Großmutter

Aus Nairobi Ilona Eveleens

Joy-Blessing, sechs Monate alt, schläft in den Armen ihrer Großmutter. Es ist dunkel, in dem zwei mal vier Meter großen Einzimmerhaus aus rostigem Wellblech gibt es keine Fenster. Hier lebt Leah Owuor (39) mit ihren vier Kindern, einem verwaisten Neffen und ihrer Enkelin. Die junge Mutter schläft hinter einem schmuddeligen Vorhang. „Das Baby soll zur zweiten Impfrunde, aber ich habe kein Geld dafür“, erklärt die 39-jährige Oma. „Bevor das Coronavirus hier auftauchte, verdiente ich Geld mit Wäsche waschen für andere. Jetzt möchte niemand mehr, dass Fremde an ihre Kleider kommen, aus Angst vor Infektion mit dem Coronavirus.“

Owuors Häuschen steht zwischen Etagenhäusern in Embakasi, einem Stadtteil der kenianischen Hauptstadt Nairobi, der an den internationalen Flughafen grenzt. Hier leben hauptsächlich Angestellte im öffentlichen Dienst, die aber nur mäßig bezahlt werden. „Ich habe große Angst vor dem Coronavirus, aber ich habe noch mehr Angst vor Polio, wenn das Baby nicht geimpft wird“, bemerkt die Großmutter.

Joy-Blessing erhielt die erste Impfung kostenlos, die nächste kostet 1 Euro. Das kann sich die Familie nicht leisten. Sie überleben nur mit Lebensmitteln, die Menschen in der Nachbarschaft schenken. „Ich habe es immer geschafft, meine Kinder impfen zu lassen, meist während Impfkampagnen, als die Impfungen kostenlos waren.“

Auf Anraten der Weltgesundheitsorganisation WHO wurden weltweite Vorsorgeimpfkampagnen im März aber eingestellt, um die Ausbreitung des Coronavirus zu verhindern. Die Unterbrechung der kostenlosen Impfungen gegen Krankheiten wie Polio, Masern und Cholera gefährdet allerdings laut einem aktuellen WHO-Bericht weltweit das Leben von fast 80 Millionen Kindern im Alter von bis zu einem Jahr.

Joachim Osur, Arzt und Lehrer am Amref-Traininginstitut für medizinische Fachkräfte, befürchtet, dass in Ländern wie Kenia nach der aktuellen Pandemie Seuchen wie Polio wieder aufblühen. „Jetzt ist alles auf das Coronavirus fixiert. Die Impfkampagnen werden nicht nur aus Angst vor Ausbreitung von dem Virus gestoppt, sondern auch, weil alle verfügbaren finanziellen Mittel zur Bekämpfung von Corona verwendet werden.“

In Afrika treten regelmäßig Krankheiten auf, die durch Impfungen verhindert werden können. Im vergangenen Jahr töteten beispielsweise Masern in der Demokratischen Republik Kongo dreimal so viele Menschen wie Ebola. Tuberkulose und Cholera töten Millionen. Obwohl Kenia derzeit poliofrei ist, hat die WHO es als Risikoland eingestuft. Vor zwei Jahren wurde das Poliovirus in den Abflüssen von Eastleigh gefunden, einem dicht besiedelten Bezirk von Nairobi.

Elizabeth Nduku (21) lebt mit ihrem Mann und der acht Monate alten Pendo in einer Einzimmerwohnung in Embakasi. Ihr Zimmer ist zwar klein, aber es gibt einen Fernseher und ein Fenster sorgt für Licht. An Essen mangelt es auch nicht, denn der Mann arbeitet in einem Lebensmittelladen. „Wir lassen Pendo nicht impfen, weil man sich in Gesundheitszentren mit dem Coronavirus infizieren kann“, sagt die Mutter. „Aber ich habe genauso Angst vor Polio, weil ich oft Altersgenossen sehe, die davon betroffen sind. Menschen mit Behinderung erhalten keine Arbeit und müssen betteln. Das ist doch kein Leben.“

Zehn Kilometer entfernt liegt Kibera, Kenias größtes Armenviertel. „Die meisten Einwohner von Kibera sitzen zwischen zwei Stühlen“, sagt Julia Bwamula (38). Sie hat das jüngste ihrer drei Kinder nicht geimpft. „Für mich ist es eine sehr einfache Wahl: Immunisierung oder Nahrung und Wasser.“

In Kibera gibt es kein fließendes Wasser. Bewohner kaufen es per Kanister. Mit dem Aufkommen des Coronavirus und dem Ruf, sich häufig die Hände zu waschen, haben die Wasserhändler die Preise erhöht. Ein 20-Liter-Kanister kostet jetzt 50 Eurocent, verglichen mit 20 Eurocent zu Beginn des Jahres. „Ich kann mir nur genügend leisten, um zu kochen und uns ein wenig zu waschen“, klingt es gedämpft hinter Bwamulas Gesichtsmaske.

Sie hat zuvor als Hausangestellte gearbeitet, aber ihr Arbeitgeber befürchtet, dass sie das Coronavirus ins Haus bringen wird, und hat sie gefeuert. Um die Sache noch schlimmer zu machen, wurde sie kürzlich aus ihrer Wohnung geworfen, weil sie sich die Miete von 30 Euro nicht mehr leisten konnte. Sie haust jetzt mit ihrer Familie zwischen zwei Lehmwänden, Plastik und Pappe. „Ich habe Angst vor all diesen Infektionskrankheiten, kann aber nur beten, dass uns Corona und Polio erspart bleiben.“