Proteste in Serbien: Ruhe nach dem ersten Tränengas

Die Kundgebungen gegen Präsident Aleksandar Vučić dauern an, sind aber wieder friedlich. Doch der Unmut der jungen Menschen ist unberechenbar.

Demonstrat*innen vor dem Parlament in Belgrad

Ein bisschen Frieden: Sitzblockade am Donnerstag Abend vor dem serbischen Parlament Foto: Aleksandar Djorovic/imago

BELGRAD taz | Tausende vorwiegend junge Menschen sitzen vor dem Parlament im Zentrum der serbischen Hauptstadt Belgrad. Heftige Straßenschlachten in dieser Woche sind friedlichen Protesten gegen das Regime gewichen. Woodstock-Peace-Brother-Stimmung liegt in der Luft.

„Hinsetzen, nicht auf Provokationen reinfallen“ lautet die Parole. Als einige erregte Männer die wenigen Polizisten aufstacheln wollen, werden sie ausgepfiffen und ziehen sich zurück. Die Mehrheit will Gewalt vermeiden. Polizei in voller Kampfmontur steht hinter dem Parlament. Für alle Fälle. Auch Oppositionspolitiker werden ausgebuht. Den jungen Menschen haben sie nichts anzubieten.

Sie wolle ihren Unmut über das Regime ausdrücken, sagt eine junge Frau. Auch weil uns die Regierung über die Coronalage belügt, fügt ihre Freundin hinzu. Weil er den Idioten nicht länger sehen und hören könne, sagt ein junger Mann. Mit „Idiot“ meint er Präsident Aleksandar Vučić, der sich seit Sonntag jeden Tag an sein Volk wendet und ihm seine eigene Wirklichkeit erklärt.

Ähnliche Bilder von harmlosen Demonstrationen sieht man aus Novi Sad, Niš oder Kragujevac. Sie erinnern an die friedlichen Protestmärsche gegen das Regime Vučić, die im Vorjahr monatelang durch Serbien zogen. Das Regime ließ sie gewähren, regimetreue Medien igno­rierten sie. Das Ergebnis: Sie flauten immer mehr ab, bis sie verschwanden.

Der Präsident wird nicht nachgeben

Damals sagte Vučić: „Solange die Proteste friedlich bleiben, könnt ihr demonstrieren, so lange ihr wollt. Ich werde nicht nachgeben.“ Heute sagt er, als sich die Demos beruhigt haben: „Macht, was ihr wollt, ihr stört uns nicht.“ Obwohl das wegen Corona unverantwortlich sei.

Aleksandar Vučić kam vor acht Jahren an die Macht. Zuerst war er „erster Vizepremier“, der de facto alle Fäden zog. Dann wurde er Ministerpräsident, der sich zum Präsidenten wählen ließ. Über seine Serbische Fortschrittspartei (SNS) kontrolliert er heute Parlament, Regierung und fast alle staatlichen Institutionen und missbraucht sie für eigene Zwecke und die seiner Partei.

Dann ließ er sich zum geliebten Volksführer küren, der keinen Ungehorsam duldet, nach dem Prinzip: Wer gegen Vučić ist, ist gegen Volk und Vaterland. Ganz auf dieser Linie äußerte sich dieser Tage auch Regierungschefin Ana Brnabić zu den Protesten. „Das ist nicht das Volk. Das sind keine serbischen Bürger“, sagte sie.

In den vergangenen acht Jahren flog so manche kriminelle Affäre der Regierungstruppe auf, von der Fälschung von Diplomen bis zu illegalen Waffengeschäften und f­ahrlässiger Tötung. Die Staatsanwaltschaft ignorierte alles. Auch deshalb wird in Serbien demonstriert.

Eine Minderheit von rechten Extremisten

Doch nun bewegt sich etwas. Es waren die Randalierer, die bei den Protesten auf die Polizisten losgingen und die Aufmerksamkeit des Westens auf das vergessene Serbien lenkten. In diesem bunten Haufen gibt es auch rechte Extremisten, aber sie sind die absolute Minderheit.

Seit dem Zerfall Jugoslawiens kommt Serbien nicht zur Ruhe. Nun haben auch die Teenager von heute erstmals Tränengas geschluckt, das Adrenalin bei einer Straßenschlacht gespürt. Was wird geschehen, wenn das Regime Vučić so weitermacht und es keine politische Opposition gibt, die den Unmut kanalisieren kann?

Welche Richtung wird Serbien einschlagen, wenn es keine staatlichen Institutionen, keine Medien gibt, wo ein Dialog stattfinden kann? Da bleibt nur noch die Straße. Und die ist unberechenbar.

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