Bildungsaktivistin über Diversität: „Ich möchte meinen Teil beitragen“

Gloria Boateng wünscht sich eine Gesellschaft, an der alle partizipieren. Für ihre Arbeit beim Verein SchlauFox ist sie mehrfach ausgezeichnet worden.

Gloria Boateng

„Dafür, Diversität zu akzeptieren, brauchen wir sicher noch Jahrzehnte“: Gloria Boateng Foto: Miguel Ferraz

taz: Gloria Boateng, wenn ich Sie zur Begrüßung gelobt hätte, wie gut Ihr Deutsch doch sei – wie hätten Sie darauf reagiert?

Gloria Boateng: Ich hätte gesagt „Ihr Deutsch ist aber auch gut!“. Auf mehr lasse ich mich da gar nicht ein.

Also auch nicht auf eine Debatte über den Unsinn dieser Frage?

Dazu hab' ich echt keine Lust mehr und wechsle lieber auf die Humorebene. Trotzdem wird dann oft noch mal nachgebohrt, im Sinne von „Sie sind aber auch schon lange hier, oder?“

Immerhin 30 Ihrer 40 Jahre, als Sie aus Ghana nach Hamburg gekommen sind.

Und nach so langer Zeit keinen Akzent mehr in der Sprache zu haben, ist für mich nichts Ungewöhnliches. Schon gar nicht, wenn man mit zehn Jahren in einem Land ankommt.

Was war denn Ihre Muttersprache – Englisch?

Nein, meine Erstsprache ist Twi aus der Akan-Gruppe. Aber das spreche ich von all meinen Sprachen mittlerweile am schlechtesten. Ist ein bisschen traurig, aber ich kann mittlerweile auch darüber lachen.

40, ist Lehrerin an einer Hamburger Stadtteilschule, Moderatorin, Autorin, zudem Fitnesstrainerin und Personal Food Coach. 2019 veröffentlichte sie ihre Autobiografie „Mein steiniger Weg zum Erfolg“. Zusammen mit anderen Personen gründete die Bildungsaktivistin 2008 den gemeinnützigen Verein SchlauFox, der sozioökonomisch benachteiligte junge Menschen auf ihrem Bildungsweg fördert. Für diese Arbeit wurden sie und der Verein mit diversen Auszeichnungen geehrt. Mehr Infos gibt es auf gloria-boateng.com

Wie wichtig ist der Faktor Sprache, um sich einer Gesellschaft zugehörig zu fühlen?

Sprache ist sehr wichtig, aber wenn eine Fremdsprache die Erstsprache ablöst, auch zwiespältig, weil man letztere – in diesem Fall Twi – vernachlässigt. So gewinnt man zwar kulturelle Identität, verliert aber auch etwas davon. Sprache dient nicht nur der Verständigung, sondern unserer Teilhabe an und dem Zugang zu einer Gesellschaft.

Haben Sie demnach zwei ganze oder zwei halbe Identitäten?

Beides. Aber manchmal fühlt es sich auch so an, als hätte ich gar keine. Da man mir in Deutschland immer wieder das Gefühl gibt, nicht richtig dazuzugehören, steht meine Identität permanent in Zweifel. Wenn ich sage, Lehrerin zu sein, denken viele an Sport oder noch besser: Kurse für Migrierte. Weil meine Identität immer mit der Hautfarbe ins Verhältnis gesetzt wird, bin ich auch nach 30 Jahren weniger deutsch, als ich mich fühle, aber eben auch weniger ghanaisch, weil ich Twi kaum noch beherrsche.

Empfinden Sie das als Mangel oder Zugewinn?

Auf der praktischen Ebene ist es definitiv ein Zugewinn. Ich merke an meinem Umgang mit anderen oder der Erziehung meiner Kinder, wie schön es ist, beide Kulturkreise und verschiedene Erziehungskulturen zu kennen und praktizieren; das gibt mir eine Wahlfreiheit, die Menschen ohne dieses doppelte Wissen womöglich fehlt. Auf der emotionalen Ebene empfinde ich es teilweise eher als Mangel, denn der Mensch ist von seiner Natur her so veranlagt, über Gruppenzugehörigkeit Sicherheit und Geborgenheit zu erlangen. Das fehlt mir auf der Makroebene. Auf der Mikroebene finde ich das zum Glück in der Familie und im Freundeskreis.

Ist dieser Mangel womöglich der Grund, warum Sie sich ehrenamtlich so sehr dafür engagieren, anderen bei der Zugehörigkeit zu helfen?

So denke ich nicht. Engagement, Fürsorge sind für mich selbstverständlich. Ich bin in einem sehr fürsorglichen Milieu groß geworden, wo jede Person für die andere sorgt. Wer in unserer Community in Ghana etwas geben konnte, gab es auch. Einander zu dienen war etwas Selbstverständliches. Diese Haltung ist Teil meiner Normalität, seit ich dazu in der Lage bin.

Das heißt in Jahren?

Ende Pubertät, ungefähr mit 17, als ich nicht mehr so sehr mit mir und meiner Lebenssituation beschäftigt war. Sobald ich meinen Weg erkannte, konnte ich den Blick auf andere richten.

Wobei es schon etwas anderes ist, sich für andere zu engagieren oder wie bei Ihnen für fast alle. Haben Sie noch den Überblick, in wie vielen Institutionen und Einrichtungen Sie anderen helfen?

Meistens schon. Mir ist halt wichtig, mein Bisschen an Lebenszeit sinnvoll zu nutzen. Wobei das nicht bloß Altruismus ist. Ich gebe, aber eigennützig, kriege nämlich auch viel zurück. Deshalb bin ich unter anderem Lehrerin geworden; da lerne ich selbst am meisten von anderen. Und es ist so bereichernd, jungen Menschen die Lust am Lernen zu vermitteln. Wer sie früh verliert, verliert sie womöglich für immer. Da ist SchlauFox

Der Bildungs- und Förderverein, den Sie 2008 gegründet haben.

… nochmal eine ganz andere Möglichkeit, Kinder auch außerschulisch, also ohne Vorgaben der zuständigen Behörde, zu unterstützen, um Bildung ganz individuell zu implementieren. Unsere Arbeit besteht darin, herauszufinden, was junge Menschen mitbringen, wie sie ihr Potenzial besser nutzen. Viele von denen kriegen so oft „Das schaffst Du nicht!“ zu hören, bis sie es selbst glauben.

Haben Sie bei einer Zehnjährigen mit Migrationshintergrund da manchmal die gleichaltrige Gloria nach Ihrer Ankunft 1989 vor Augen?

Es gab Phasen, in denen das der Fall war, die sind aber schon lange her. Und wir dürfen nicht vergessen, dass die Gesellschaft von heute verglichen mit damals zwar mehr Ressourcen und Bildungszugänge bietet, im Kern aber noch immer so ist wie früher. Es wird zwar mehr miteinander geredet, weshalb sich langsam eine neue Haltung zum Anderssein entwickelt, aber auf dem Weg, Diversität zu akzeptieren, brauchen wir sicher noch Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, um in einer Gesellschaft anzukommen, an der alle partizipieren.

Das klingt jetzt misanthropisch …

Nein, realistisch. Ich bin eher philanthropisch, habe allerdings Hemmungen, einen Zeitpunkt festzulegen, an dem wir ankommen – zumal ich nicht weiß, wer dieses Ziel definieren darf. Ich möchte nur meinen Teil dazu beitragen, dass sich möglichst viele auf den Weg dorthin machen können, denen das ohne die Hilfe anderer schwerfällt.

Beschreiben Sie damit auch sich selber, die Sie bald nach der Ankunft in Deutschland auf sich alleine gestellt waren?

Ja, meine Mutter ist drei Monate danach abgeschoben worden und ein Jahr später starb mein Großvater. Mit elf bin ich dann bei einer Pflegefamilie untergekommen, in einer ländlichen Gegend, wo sich die Akzeptanz für eine, die wie ich aus dem Rahmen fiel, gering war. Das hat mein Leben schon enorm erschwert.

Inwiefern?

Ein Nachbarsjunge hat mich auf rassistische Art und Weise bespuckt und bepöbelt. Er hat das afrikanische Spiel, das ich mit meiner Freundin auf die Straße gemalt hatte, bekritzelt. Er hat ein Hakenkreuz auf unser Fenster gesprüht und wochenlang eine Fahne der rechtsradikalen FAP aus dem Fenster gehängt. Einmal bin ich auf dem Weg zur Schule von drei jungen Männern krankenhausreif geprügelt worden. Sie sagten: „Wir müssen die Neger aus unserm Dorf rauskriegen, sonst vermehren sie sich wie die Karnickel.“ Ich kam mit gebrochenen Rippen und einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus. Leider hat die Polizei nicht herausbekommen, wer sie waren.

Wie sind Sie damit umgegangen?

Ich hab die Flucht angetreten. Ich habe mich immer mehr zurückgezogen in die Welt der Bücher, habe so wenig wie möglich mit der Außenwelt kommuniziert. In der Schule habe ich immer wieder Hilferufe ausgesandt, die aber kaum gehört worden sind. Es wurde wenig unternommen gegen die Jugendlichen, die mir, aber auch einem Jungen mit Behinderung das Leben schwer gemacht haben.

Wie sind Sie aus diesem Rückzug ins Innere wieder herausgekommen?

Ich hatte immer wieder tolle Menschen um mich herum, mit denen ich reden konnte, die mich unterstützt haben, die mir gezeigt haben, dass das Leben auch andere Seiten hat. Meine Freund*innen etwa. Ich hatte auch eine Lehrerin, der konnte ich jederzeit schreiben. Sie hat mich motiviert durchzuhalten. Sie hat mich sowohl im Unterricht als auch außerhalb des Unterrichts unterstützt und mir signalisiert, dass sie immer für mich da ist. Das, und mein Glaube an einen mich liebenden und für mich sorgenden Gott, hat mir sehr geholfen. Ich habe viel Glück erlebt. Und je glücklicher ich bin, desto mehr kann ich davon an andere weitergeben.

Ist Selbstlosigkeit ohne Glück oder zumindest Zufriedenheit nicht möglich?

Es erleichtert sie jedenfalls ungemein, aber zum Glück gibt es auf der ganzen Welt Menschen, die anderen helfen, obwohl es ihnen selber schlecht geht. Menschen, die auch in der Not füreinander da sind.

Haben Sie von denen in Hamburg später mehr vorgefunden als auf dem Land in Schleswig-Holstein?

Als Großstadt voller Menschen aus vielen Ländern und Kulturkreisen ist das Leben natürlich diverser als auf dem Dorf. Weil die Menschen keine grundsätzlich anderen sind, passieren Dinge, die dort passieren, auch hier. Mehr Menschen heißt halt auch mehr von allen.

Also auch Arschlöcher.

Auch die. Aber in der Anonymität einer Millionenstadt sind sie wahrscheinlich weniger sichtbar. Doch je mehr die einen versuchen, sich dafür zu engagieren, dass die Gesellschaft Diversität als Chance begreift, umso mehr versuchen andere, sie auseinanderzutreiben. In Deutschland und anderswo entsteht so ein Kampf verschiedener Lager.

Macht es einen Unterschied, ob man einem Arschloch auf dem Land begegnet oder in der Stadt?

Naja, Rassisten sind keine Arschlöcher. Rassisten sind Rassisten. Der Unterschied ist, dass man ihnen auf dem Land allein ausgeliefert ist. In einer Stadt leben so viele Menschen, da kriegt es meistens irgendjemand mit, wenn man angefeindet wird, und steht einem – hoffentlich! – bei. Auch in Hamburg in der Bahn werde ich manchmal ganz schön schlimm traktiert. Es gab aber Situationen, in denen mir jemand zu Hilfe gekommen ist. Vor zwei Wochen ist ein junger Mann dazwischen gegangen und hat gesagt: „He, so reden wir nicht! So redet man mit niemandem.“ Auf dem Land sind die Menschen vielleicht ängstlicher oder sie halten eher zusammen. Diejenigen, die austeilen, sind eher Teil der Gemeinschaft, als ich es bin.

Hilft eine Auszeichnung wie das Bundesverdienstkreuz für Ihre Vereinsarbeit dabei, sie noch weiter zu bringen?

Es bringt definitiv was, denn so eine Auszeichnung ehrt das ehrenamtliche Engagement insgesamt. Man kann gar nicht deutlich genug machen, wie sehr dieses Land davon profitiert. Abgesehen von Motivation und Zusammengehörigkeit hilft so eine Anerkennung uns als Verein aber auch ganz praktisch, die Aufmerksamkeit für einzelne Projekte zu erhöhen und finanzielle Unterstützung zu kriegen.

Waren Sie also auch persönlich ein wenig stolz auf sich und das, was Sie erreicht haben?

Das war ich! Und dankbar für das, was ich in meinem Leben erreicht habe. Das Verdienstkreuz habe ich als Gloria Boateng angenommen, aber es gilt 200 Personen, die sich im Verein engagieren und engagiert haben. Deshalb steht die Auszeichnung auch nicht bei mir zu Hause, sondern bei SchlauFox.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.