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: Am nächsten Tag hat die kleinere Tochter Fieber

Endlich kommt mal jemand, um etwas bei uns zu messen!

Die Sommerferien sind da. Der Theaterworkshop für die Große an der Jugendkunstschule FRI-X Berg läuft, abgespeckt zwar und draußen, aber er läuft. Auch in der Kita der Kleinen herrscht wieder Normalbetrieb. Wir merken, welche Berge von Federn wir in den letzten Monaten gelassen haben. Wir sind ganz hohläugig vor Erschöpfung, gleichzeitig aber voller Liebe: für unsere super Coronamitmachkinder, für alle Er­zie­her*in­nen und Thea­ter­pädagog*in­nen dieser Welt und für die anderen Eltern, die jetzt die Kinder auch mal wieder abholen und mitnehmen. Dass nach diesen Ferien ein Schuljahr kommt, das seinen Namen verdient, glauben wir trotzdem nicht.

Corona ist nicht mehr so abstrakt wie die längste Zeit. In der letzten Schulwoche fehlte ein Kind in der halbierten Klasse der Tochter, am Ende dieser Woche rief die Lehrerin an, die ganze Familie sei an Covid-19 erkrankt, niemand wisse, wieso und warum. Zwei Tage vor dem Auftauchen der Symptome sei das Kind noch in der Schule gewesen, der Unterricht morgen falle aus, man warte erst die Einschätzung des Gesundheitsamts ab. Wenige Stunden später gibt das Amt über den Schulleiter Entwarnung. Die „Kinder der gleichen Lerngruppe“ seien „als Kontaktpersonen der Kategorie II mit geringem Infektionsrisiko einzustufen“, für sie seien „keine speziellen Maßnahmen vorgesehen“. Aha.

Wir Eltern wundern uns, hatten wir doch schon die Quarantäneanordnung erwartet, zumindest aber den Test für alle elf betroffenen Kinder und ihre Familien. Nichts dergleichen. Wir sollen weitermachen wie gehabt, die Kinder sollen ihre Zeugnisse abholen kommen.

Am nächsten Tag hat die kleinere Tochter Fieber. Wir wollen nicht hysterisch sein, werden aber doch unsicher. Lassen das Kind zu Hause. Sollten wohl bei den Behörden nachfragen. Probieren es mit den Coronahotlines. Die erste, die wir im Internet finden, ist „nicht vergeben“. Unter der zweiten werden wir, kurz angebunden, durchgestellt ans Kreuzberger Gesundheitsamt, das ebenfalls kurz angebunden darum bittet, unseren Fall per Mail zu schildern. Tun wir. Zurück kommt eine automatische Antwort. Die Bearbeitung unseres Anliegens könne sich etwas verzögern, aber man werde sich so schnell wie möglich mit uns in Verbindung setzen.

Das war am 22. Juni; bis jetzt, Stand 2. Juli, hat sich niemand bei uns gemeldet.

Das Kind ist nach einem Tag wieder fit. Wir baden im See. Ein Kindergeburtstag findet im Hochseilgarten inmitten eines Regengusses statt. Dann hat die größere Tochter Schnupfen und erhöhte Temperatur. Kein Wunder. Trotzdem fragen wir bei Kinderärztin und Hausarzt nach einem Test. Kriegen keinen. Wo das Gesundheitsamt doch schon Entwarnung gegeben hat. Also kippen wir unsere Bedenken über Bord. Kann ja wohl nicht sein, dass wir den beschlossenen Coronakinderbonus privat in Selbstkauftests für 156 Euro pro Person investieren. So viel neoliberalen Korpsgeist kann niemand von uns verlangen. Oder?

Es klingelt. Der SO-36-Schorn­steinfeger steht vor der Tür und will die Abgaswerte unserer Therme messen. Endlich kommt mal jemand, um etwas bei uns zu messen! Die Überprüfung unserer Feuerstätte ergibt keine Beanstandung. Nur der Wasserdruck in den Heizungsrohren sei sehr niedrig. Ja, er fällt ständig, egal was wir tun, sage ich. Vielleicht bräuchte es ein neues Ausdehnungsgefäß, sagt der Schornsteinfeger. Das haben wir letztes Jahr erst einbauen lassen, sage ich. Er zuckt mit den Schultern. Ja, dann wisse er auch nicht. Vielleicht eine neue Therme. Zu teuer, sage ich. Er zuckt mit den Schultern. Dann vielleicht wieder Wasser nachfüllen.

Gute Idee, meine ich und füge hinzu, sein neuer Coronavollbart sei recht kleidsam. Er lächelt sanft und zuckt mit den Schultern. Mit Corona habe der nichts zu tun, nur mit reiner Faulheit. Er kratze außerdem sehr. Kirsten Riesselmann