Hörspiel zu NSU-Attentat: „Wir sind uns selbst überlassen“

Das Hörstück „Lücke 2.0“ zum Kölner Nagelbombenattentat lässt Überlebende sprechen. Es thematisiert Erkenntnisse zu rechtsradikalen Netzwerken.

Zerstörtes Schaufenster eines Geschäfts in der Kölner Keupstraße nach dem NSU-Nagelbombenattentat.

Zerstörte Ladenzeile in der Kölner Keupstraße nach dem NSU-Nagelbombenattentat 2004 Foto: dpa

BERLIN taz | „Wenn uns was passiert, wen sollen wir dann noch rufen?“, sagt Kutlu Yurtseven. „Wir sind uns selbst überlassen“, fügt Ayfer Sentürk hinzu. Die Sätze hallen nach bei einer Hörspielaufnahme im Corona-Lockdown: In der kahlen Halle am Carlswerk in Köln sitzen Regisseur Nuran David Calis, Dramaturgin Stawrula Panagiotaki und zwei Tonleute am Pult. Über ihnen, in einer geschlossenen weißen Studiobox, sitzen Ismet Büyük, Ayfer Şentürk, Demir Kutlu Yurtseven, Keupstraßen-Zugehörige und Überlebende des Nagelbombenattentats.

Ihre Wut, Resignation und Enttäuschung sind durch Wände und Mundschutz hindurch spürbar. Şentürk und Yurtseven spielen nicht nur darauf an, dass im Jahr 2004 nach einem Terroranschlag des NSU die Keupstraßenbewohner, gegen die sich die Gewalt gerichtet hatte, als Erste verdächtigt wurden, ein Fakt, der weithin besprochen wurde und sie bis heute traumatisiert.

Ayfer Şentürk spricht von ihrem heutigen Bedrohungsgefühl, von rechtsradikalen Netzwerken in Militär und Polizei, Waffensammlungen bei Elitesoldaten, der Tatsache, dass der dubiose Verfassungsschützer Temme den Mörder von Lübcke kannte, von Hagen, Hanau, all dem, was seit 2004 passiert ist. Der deutschen Exekutive und ihrer Schutzfunktion vertraut sie weniger als je zuvor.

Noch vor einem Jahr, am Jahrestag des Gedenkens, fanden die Keupstraßen-Anwohner Drohbriefe mit Hakenkreuzen im Briefkasten: „Jeder einzelne von euch ist ein legitimes Ziel.“ Die Gedenkveranstaltung fand unter massivem Polizeischutz statt, beruhigt hat es die drei nicht.

Sternstunde des dokumentarischen Theaters

Vor 14 Jahren war der Nagelbombenanschlag in der Keupstraße, vor sechs Jahren die Premie­re seiner theatralen Aufarbeitung am Schauspiel Köln „Die Lücke“: Man kann die Inszenierung als eine Sternstunde des dokumentarischen Theaters bezeichnen, in der Kunst etwas bewirkte. Erstmals beteiligte sich die bis dahin verschlossene Community um die Keupstraße am Projekt, öffnete sich, fühlte sich ernst genommen.

Auch wenn es inzwischen stiller um die Muster-Kooperation von Theater und Viertel wurde, machen die drei damaligen Mitwirkenden nun bei der Neuauflage „Die Lücke 2.0“ mit – eigentlich als Theaterstück geplant, nun als Hörspiel veröffentlicht.

„Das erste Mal hat uns jemand zugehört“, sagt Şentürk. „Das Stück ist unsere Mission. Vertrauen wurde dadurch aufgebaut, aber noch nicht genug“, fügt Ismet Büyuk hinzu. Kutlu Yurtseven würde auch noch eine dritte und vierte Version machen, „um es den Leuten ins Gesicht zu schreien. Vielleicht ändert sich dann was. Irgendwas muss sich ändern.“

Immer noch werden die Stimmen der Betroffenen zu wenig gehört, ihre Gesichter zu wenig gesehen. Das Urteil im NSU-Prozess? Wirkt immer noch wie ein Schlag ins Gesicht der Hinterbliebenen: Kein Wort des Mitgefühls im 3.000 Seiten langen Urteil. Kein Wort darüber, dass sie jahrelang vom deutschen Staat kriminalisiert wurden. Kein Wort über Unterstützernetzwerke. Sondern: immer nur Untersuchungsausschüsse, in denen kein Mensch mit Migrationsgeschichte sitzt.

Gibt es einen Bewusstseinswandel?

Insofern ist immens wichtig, dass das Schauspiel Köln die Arbeit an „Die Lücke“ fortschreibt – und die Stimmen von Büyuk, Şentürk, Yurtseven darin zu hören sind. Das Hörspiel thematisiert die stockenden Planungen für ein Kölner Mahnmal, genauso wie das NSU-Urteil und neue Erkenntnisse zu rechtsradikalen Netzwerken. Das ist manchmal larmoyant und unerbittlich – hat seit dem Mord an Lübcke in der Mehrheitsgesellschaft nicht doch ein Bewusstseinswandel eingesetzt?

Für die drei Überlebenden scheint das definitiv nicht der Fall zu sein. Das ist bitter, muss aber zur Kenntnis genommen werden – genau da liegt das Verdienst der Fortschreibung. Ob das Stück „Die Lücke“ denn auch dazu geführt habe, dass die Keupstraßenbewohner jetzt häufiger ins angrenzende Schauspielhaus kämen, will ich nach der Aufnahme wissen, als sie mit der Crew zusammensitzen und sich über das Wiedersehen freuen.

„Nein!“, lacht Ayfer Şentürk. „Dazu müssten auf der Bühne ganz andere Themen und Stücke behandelt werden“, fügt Kutlu hinzu. Aber dann sagt Şentürk: „Die Alten werden nie in ein deutsches Theater gehen – nur die Jungen, die gehen manchmal hin.“

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