Nur noch auf halbmast

Abstand halten? Ordentlich die Mund-Nasen-Bedeckung tragen? Die BerlinerInnen werden nachlässiger. Die Prioritäten verschieben sich

Aus Berlin Anna Klöpper

Am Steg der BVG-Fähre über den Wannsee nach Kladow stehen die Passagiere am Wochenende in einer langen Schlange artig aufgereiht. Die Sache mit dem Mindestabstand haben die BerlinerInnen ganz gut verinnerlicht, allerdings schrumpft der gefühlt inzwischen – nicht nur in der Warteschlange vor der Wannseefähre – eher auf pi mal Daumen 1 Meter statt der eigentlich Corona-verordneten 1,50 Meter.

Die „Alltagsmaske“ (Mund-Nasen-Bedeckung) hängt ohnehin bei den meisten schon länger auf halbmast, das heißt unter der Nase. So einige versenken in der S-Bahn auch nur noch ihre Nasenspitze im hochgezippten Jackenkragen oder halten sich, wie die aristokratischen Gesellschaften in historischen Filmen, ein Stofftuch mehr oder weniger vornehm vors Gesicht.

Mit den zahlreichen Lockerungen in der strengen Coronaverordnung des Senats seit Mitte Mai lockern sich auch die BerlinerInnen wieder merklich. Vieles ist ja inzwischen wieder erlaubt. Die Demo-Beschränkungen sind aufgehoben – rechtzeitig, damit am Samstag Zehntausende Menschen auf dem Alexanderplatz gegen Polizeigewalt und Rassismus demonstrieren konnten. Sogar die Kneipen dürfen ihre Innenräume wieder bewirtschaften. Und morgens sind auch die breiteren Radwege wieder gut gefüllt mit Menschen, die aus der Kurzarbeit oder dem Homeoffice zurück sind und zur Arbeit fahren.

Der komplizierte R-Wert

Die Berliner Corona-Ampel, das Frühwarnsystem, das der Senat zeitgleich mit den Lockerungen installiert hat, zeigt bisher meist auf Grün – Entspannung ist angesagt, sowohl bei den Neuinfektionen als auch bei der Auslastung der Intensivbetten und der Reproduktionszahl, dem R-Wert, der angibt, wie viele Menschen eine infizierte Person ansteckt. Dieses Frühwarnsystem ist relativ kompliziert, und genau deshalb kommt in der Öffentlichkeit vor allem an: Die Ampel ist grün. Dass der R-Wert ein paar Tage wieder in den Bereich des exponentiellen Wachstums kletterte, beeindruckt auch deshalb nicht, weil die Ampel ja scheinbar von alleine wieder auf Grün springt – obwohl man einfach weiter in die Kneipe gegangen ist.

Auf der Fähre nach Kladow am Samstag drückt sich ein recht betagtes Paar in die vollbesetzten Sitzreihen. Von denen dürfte eigentlich nur jede zweite nutzbar sein, wenn man den Mindestabstand wirklich einhalten wollte.

Auf dem vollen Alexanderplatz, bei der Demo gegen Polizeigewalt und Rassismus, erklärt am selben Nachmittag eine junge Teilnehmerin einem Reporter, warum es wichtig ist, „Prioritäten zu setzen“: Auf der einen Seite eine Krankheit, die man behandeln könne, wie sie meint, auf der anderen Seite die Krankheit Rassismus, gegen die man eben auch aufstehen müsse.

Die Prioritäten verschieben sich wieder. Das ist notwendig. Und lässt viele mit einem neuen Gefühl der Schutzlosigkeit zurück. Das ist das Spannungsfeld gerade.