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: Fast Normalität auf den Mythenmeilen

Am Freitag dachte ich, jetzt hat uns die sogenannte Normalität wieder. In der U2 war es, auf dem Weg vom Senefelder Platz, Prenzlauer Berg in Richtung Innenstadt, als plötzlich drei korrekt maskierte Fahrkartenkontrolleure die U-Bahn betraten und auf Tuchfühlung gingen.

Als verirrter Bürger trug ich Schwarz, dabei jedoch einen Fahrschein und durfte Zeuge werden, wie eine Mitreisende über das ordnungsgemäße Stempeln ihres Sozialtickets belehrt wurde. Nichts für ungut, es hätte für die Frau auch teuer werden können, aber der Tonfall, in dem die Greifer sie laufen ließen, hatte etwas von meinem jovialen Mathelehrer. Schwamm drüber, damals waren Modern Talking in den Charts.

Am Sonntag dann wollte ich mich überzeugen, wie es der Normalität in meiner Abwesenheit weiter ergangen ist, und machte mich auf einen Spaziergang, den ich so das letzte Mal Ende März absolviert hatte.

Ich lief von einem Tempel zum anderen, ich lief von der 8MM-Bar zur Gethsemanekirche und zurück. An der von ihren Fixsternen „Acht“ genannten Bar hatte für Wochen eine Kreidetafel gehangen, auf ihr der Schriftzug „Tonight“, ansonsten aber ein schwarzes Loch gegähnt. Jetzt heißt es wieder „Open“, freilich mit dem Hinweis, dass da Regeln sind.

Und: „Thank you for your support and understanding.“ Die „Acht“ hat den Lockdown überlebt, ebenso wie andere Prenzlauer-Berg-Nachtinstitutionen, das benachbarte Watt in der Metzer Straße, weiter die Schönhauser hoch die Baiz, auf der Prenzlauer Allee das Luxus und dazwischen das Müller. Die Bar Central verdient sich einen Pokal mit der Maßgabe: „Abstand, Anstand, Verstand. Danke!“ Bitte schön.

Ja, am Sonntag war es fast so wie in vielen Jahren vorher auf den Mythenmeilen zwischen der Torstraße und der Bornholmer Straße. Menschen trugen ihre Sonnenbrillen und Flohmarktplatten (diesmal: Elton John) spazieren, andere sah man draußen sitzen und wusste, die siehst du ein paar Stunden später wieder, aber dann drei Häuser weiter. Wenn du willst!

Selbst der Schaufenster-Spruch eines Spirituosenhändlers hätte genauso gut aus der Zeit vor dem Virus sein können: „Wir haben alles da, was jetzt noch hilft.“ Tut es übrigens nicht, ich darf das sagen. Gut gelacht dürften die Betreiber des Erotikfachgeschäfts auf der Höhe des Cantianstadions haben, als sie in ihre Eingangstür den Hinweis hingen, ab hier ginge es nur mit Maske weiter.

Daneben das denkmalgeschützte Kino Colosseum: Am 22. Mai meldete das Traditionshaus, bis 1963 Premierenkino der DDR, Insolvenz an. Der vorläufige Insolvenzverwalter erklärte den Schritt mit dem mehr als zweimonatigen Umsatzausfall infolge der Coronapandemie.

Auf dem Steinfußboden des Eingangsbereichs sah es aus wie nach jedem anderen Standardwochenende: Kippen, Getränkerudimente und ein verwaister Lippenstift. Auf die Eingangstür darüber ist hingegen geklebt: „Colosseum darf nicht sterben“.

Noch steht das Gebäude mit dem markant geschwungenen „C“ und der Leuchtschrift an der Vorderfront, und wer weiß, ob es tatsächlich einem Bürokomplex weichen muss. Pankows Künste und Kultur haben sicher nichts gegen einen Ort auf der Hauptstraße.

Mit der Heiterkeit aber hat es sich dann sehr schnell erledigt. Seit Langem zeigt die Gethsemanekirche zur Straße hin Tafeln für die politischen Gefangenen in der Türkei. Es sind wieder neue hinzugekommen. Für sie gab es keine Auszeit.

Und an der Apotheke hängt seit Kurzem ein rotes Plakat mit insgesamt acht Rufnummern: Es sind die Berliner Hilfetelefone bei häuslicher und sexueller Gewalt, psychischer Belastung, Einsamkeit und für pflegende Angehörige. So viel zur Normalität, einem Unwort.

Robert Mießner