berliner szenen
: Mehr Vorbilder wären gut

Ist die Frau behindert?“, fragt ein etwa Dreijähriger lauthals, als er gegenüber, auf der anderen Straßenseite, eine Person sieht, die sich mit Krücken mühsam fortbewegt. „Quatsch“, sagt ein etwa siebenjähriges Mädchen an seiner Seite. Die beiden sind zusammen mit einer etwa Fünfjährigen unterwegs. (Seit Corona scheinen Kinder öfter mal unbegleitet auf der Straße unterwegs zu sein. Neulich rannten zwei etwa Vierjährige auf die Schönhauser Allee zu und versicherten mir, dass sie die Erlaubnis ihrer Eltern hätten, einmal um den Block zu joggen.) Der Junge in der Dreiergruppe lässt sich seine Frage nicht nehmen. „Ist die behindert?“, wiederholt er noch lauter.

Die Cafégäste, an denen er vorbeigeht, gucken interessiert auf die andere Straßenseite. „Pst“, sagt das Mädchen. „Erstens nennt man das gehandicapt, und zweitens ist die Frau ein Mann und vielleicht einfach zu alt, um gerade zu gehen.“ Szenenwechsel. Wedding. Ein Mensch kommt aus einem Dönerladen, der Deckel der Eisteeflasche in seiner Hand ist offen, irgendwie hat er zu viel Schwung, ein Spritzer des Getränks fliegt Richtung Kumpels. „Ey, du Hund, bist du behindert, oder was?“ Szenenwechsel. Köpenicker Straße. Eine erwachsene Dreiergruppe ist auf E-Scootern unterwegs. Ein Scooterfahrer überholt einen anderen und schneidet ihn fast. „Mann, du bist voll behindert!“, schreit der schlenkernde überholte Scootist.

Ich wünsche mir das siebenjährige Mädchen herbei, auch wenn seine Sozialkompetenz aus nicht ganz informierten Quellen zu stammen scheint. Offensichtlich hat es von Vorbildpersonen, die auch nicht wissen, wie das heißt oder wie man überhaupt drüber spricht, immerhin etwas aufgeschnappt: dass man mit Worten vorsichtig sein muss. Ein paar mehr Vorbildpersonen in der Welt wären toll. Informierte noch besser. Astrid Kaminski