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: Die Augen sollen sich mal nicht so aufspielen

Die Maske macht selbst Profis der Kommunikation wieder zu Teenagern

Münder sind wichtig, das ist bekannt, man braucht sie für die elementarsten Dinge, essen, trinken, schimpfen zum Beispiel. Wie wichtig Münder aber sind, um sein Gegenüber einzuschätzen, fällt einem erst auf, wenn man keine mehr sieht. In den ersten Tagen nach Einführung der Maskenpflicht war die Umwelt ein Rätsel, jeder Mensch eine kleine Sphinx von Gizeh, nur dass neben der Nase halt auch die Lippen fehlen. Immer wird von den Augen gesprochen, von ihrem Ausdruck und Geheimnis. Dabei sollten die sich mal nicht so aufspielen: Am Ende erzählen noch die interessantesten Augen, das hat Corona uns gezeigt, rein gar nichts ohne Kenntnis der unteren Gesichtshälfte.

Mit halbverhangenem Gesicht gucken auffällig viele Leute in der Öffentlichkeit, ob freundlich, sauer oder irritiert gestimmt, so seltsam verkniffen wie Melania Trump. Was dann passieren kann: Man fragt sich, was bei dem Menschen, der vor einem in der Supermarktschlange steht, gerade unter der Maske passiert, stiert ein bisschen zu lang in seine ­Melania-Augen, und schon hat man – ohne es zu wollen – so was wie einen Supermarktflirt an der Backe, weil sich seit „Common People“ alle einen Supermarktflirt wünschen, aber im entscheidenden Moment meist nur Klopapier und Mottenfallen kaufen. Nun ist Klopapier nicht mehr peinlich. Man muss also den vermeintlichen Kontakt­versuch einigermaßen nett wegmoderieren, was gar nicht so einfach ist, weil man nur be­dauernd die Augenbrauen heben, dazu aber nicht lächeln kann. Was für ein herrlicher Unfug.

Jetzt hat sich die Lage geändert: In den Berliner Bahnen und Läden sieht man wieder mehr Münder als noch zuletzt. Der Gesundheitsminister (Bambiaugen, aber viele kleine Zähne, wie ein Delfin – achten Sie mal drauf!) hat gesagt, das Risiko einer zweiten Welle sehe er nicht, also ist Corona jetzt vorbei. Und damit auch bald die Melania-Zeit. Dabei sollten schon deshalb alle die verdammten Masken weiterhin tragen, damit dieses lustige, blöde Ratespiel noch ein bisschen weitergeht. In den schönsten Momenten sind nämlich alle, auch die Coolen und Souveränen, vereint in ihrem Ungeschick. Aus abgeklärten Profis der nonverbalen Verständigung wird eine Gesellschaft der linkischen Teens, die sich berührungsfrei betasten.

Weil nichts auf den ersten Blick so klar ist wie sonst angeblich, weil man wieder nur so alt ist wie damals, als man noch nicht wusste, ob ein Seitenblick von Toni bedeutet, dass er einen mag oder plant, einen mit eingespeichelten Papierkugeln zu bewerfen.

Die Autorin Stefanie Sargnagel hat Ende April auf Twitter geschrieben, die Lockdown-Zeit fühle sich generell „so teeniemäßig“ an, sie erinnere an einen Lebensabschnitt, in dem man sich keine Lokale leisten konnte und herumirrte: „Ständig trifft man sich auf Parkplätzen, Brachen, Ufern, Hinterhöfen, Spielplätzen, schleicht sich auf Wohnhausdächer, erforscht Leerstand, lungert vorm Bahnhof herum, das ist schon schön.“

Natürlich ist die Pandemie in erster Linie nicht schön, ­sondern eine Katastrophe, und natürlich war es vor allem traurig, die besten Freunde vor der Wohnung stehenzulassen wie früher den Toni (der einen dann doch mochte, aber noch nicht mit hoch durfte), um mit ihnen drei Runden um den Block zu laufen.

Aber Stefanie Sargnagel hat auch recht: Es macht Spaß, seine Berlin personality mal an den tollen Clubs vorbeizutragen – nicht hinein – und dann zu schauen, wie viel von ihr noch übrig ist. Vielleicht hat ein später Spielplatzsommer ja auch mal was: Spart Geld und man verfällt nicht in die Superspreaderei. Wäre ja zu dumm, den Menschen an der Kasse aus Schuldgefühl nicht in die Augen zu gucken. Julia Lorenz