Verdrängung von Obdachlosen in Berlin: Betteln und hausieren verboten

Baudenkmal ohne Obdachlose: Auf dem Hansaplatz kontrolliert ein Sicherheitsdienst die neue Platz­ordnung und wird dafür auch vom Bezirk bezahlt.

Hochhäuser am Hansaplatz in Berlin

Baudenkmal will Weltkulturerbe werden – aber bitte ohne Obdachlose? Foto: dpa

„Ich versteh dich voll, Mann, so geht’s einfach nicht.“ Der hagere Mann presst je eine Flasche Klaren und Cola an sich und nickt dem Sicherheitsdienst zustimmend zu. Der hat gerade S. von seinem Stammplatz vor dem Supermarkt verwiesen. Lautstark zieht S. ab, wo er saß, hinterlässt er einen Teppich aus Essensresten und Müll. Auch die anderen Obdachlosen, die eben noch in der Passage auf dem Hansaplatz in Mitte um ein paar Cent bettelten, verlassen das Gelände. „Immer wieder werden wir hier vertrieben“, erzählt Arwi M., der seit drei Jahren mit seiner Frau auf der Straße lebt.

Wieder der Bezirk Mitte, wieder geht es um Obdachlose, wieder geht es um den Vorwurf der Verdrängung. Bereits seit Jahren lässt der Bezirk im Tiergarten und anderen Parks immer wieder entstehende Camps räumen und erntet dafür teils heftige Kritik von Ak­teu­r*in­nen der Obdachlosenhilfe. Diesmal schlagen die Straßensozialarbeiter von Gangway Alarm: Seit einigen Wochen gibt es am Hansaplatz eine Platzordnung, die obdachlose Menschen verdrängen soll.

Der Skandal aus Sicht der Streetworker: Das von einem Sicherheitsdienst kontrollierte Gebiet, auf dem die Platzordnung gilt, umfasst sowohl Privatgelände als auch den öffentlichen Platz; der Bezirk beteiligt sich zu 40 Prozent an den Kosten. „Das verstößt gegen das Grundgesetz“, sagt Andreas Abel, seit acht Jahren Straßensozialarbeiter im Bereich des nahe gelegenen Bahnhofs Zoo und immer wieder vor Ort auf dem Hansaplatz. Vor zwei Wochen schrieb Gangway eine Beschwerde an den Bezirk.

Auf Nachfrage meldet sich der Bezirksbürgermeister persönlich zu Wort. „Kennen Sie den Platz?“, fragt Stephan von Dassel (Grüne). „Wissen Sie, was da los ist?“

Seit 1995 denkmalgeschützt

Der Hansaplatz entstand Ende der 1950er Jahre im Rahmen der Internationalen Bauausstellung Interbau als Zen­trum einer Mustersiedlung, der „Stadt von morgen“, damals State of the Art. Nach Verlassen der U-Bahn-Station befindet man sich auch heute noch direkt im sogenannten Einkaufszentrum, einem Ensemble aus einem Dutzend niedrig überdachter Läden.

Alles hier ist seit 1995 denkmalgeschützt – jede Gehwegplatte, auf der man steht, das abblätternde Türkis an den Metallträgern, die dunkelbraunen Holzpaneelen an der Decke, die das Licht jedes noch so hellen Tages schlucken. Linker Hand sind die Türen des Grips Theaters wegen Corona seit Wochen verschlossen, geradeaus befindet sich die Filiale einer Bäckereikette. Hier hängen sie im Schaufenster: die Platzregeln. Ein weiteres Exemplar prangt vor dem verrammelten Späti, der wohl wegen krummer Geschäfte schließen musste, ein dritter Aushang klebt am Schaufenster der Apotheke.

Die Platzordnung untersagt unter anderem das Trinken von Alkohol, Betteln, Hausieren, Nächtigen, Urinieren und unnötigen Aufenthalt. Eine Karte verzeichnet das Gebiet, auf dem die Platzordnung gilt. Ende letzten Jahres gab es eine Testphase, in der ein Sicherheitsdienst an 6 Tagen in der Woche vor Ort war. Seit einigen Wochen sind es nun regelmäßig 3 Tage, an denen die Männer das Gebiet überwachen.

Die Federführung hat der Eigentümer des Einkaufszentrums, unterstützt wird er vom Bezirk. „Es gibt hier eine sehr aktive Gruppe von Gewerbetreibenden und Anwohnern“, sagt Streetworker Andreas Abel, „die wollen die obdachlosen Menschen vom Hansaplatz vertreiben.“ Früher sei der Hansaplatz tatsächlich einmal ein sogenannter kriminalitätsbelasteter Ort gewesen. „Aber das ist er schon lange nicht mehr. Es handelt sich um ein persönliches Unsicherheitsempfinden und verfestigte Vorurteile“, sagt Abel.

Ulrich Greiner betreibt mit seiner Frau seit 30 Jahren die Apotheke im Einkaufszentrum. „Wir hatten hier immer schon Obdachlose, das war kein Pro­blem, die haben wir mit durchgefüttert“, sagt er. Aber seit fünf, sechs Jahren gebe es eine so massive Aggressivität, dass man im Alltag einfach nicht damit zurechtkomme. Greiner ist Mitglied im Bürgerverein Hansa­viertel, der sich 2004 gründete, um die Feierlichkeiten zum 50. Jubiläum des Hansaviertels 2007 vorzubereiten.

Eigentlich ging es dem Verein um die Wahrung des Bau- und Gartendenkmals, man strebt die Anerkennung als Weltkulturerbe an. Doch seit Jahren, so erzählt Vorsitzende Brigitta Vogt, geht es immer wieder auch um die Obdachlosen am Hansaplatz. Gerade die älteren Bewohner, von denen viele in den 90ern hier Eigentumswohnungen gekauft haben, hätten Angst, in das Einkaufszentrum zu gehen. Der Grund seien vor allem obdachlose Menschen aus anderen EU-Ländern, die kein Deutsch sprächen und von denen einzelne extrem aggressiv auftreten. „Es gibt ein Fremdheitsgefühl“, sagt Vogt. „Warum kann man die, die hier Stress machen, nicht zurückschicken?“, fragt der Apotheker.

Ladenbesitzer, Anwohner und der Bürgerverein berichten von Fäkalien, von Müll, von Pöbeleien und Drohungen, von eingeschlagenen Scheiben, auch von Gewalttätigkeit. Von einzelnen Obdachlosen, die alte Leute vor dem Supermarkt so lange auf den Kieker nehmen, bis diese ihnen Geld geben. Die Menschen anspucken, ihre Genitalien entblößen und Kindern Angst machten. Auf diese Erfahrungen beruft sich auch der zuständige Bezirksbürgermeister von Dassel und verteidigt die Entscheidung, dass der Sicherheitsdienst neben den privaten auch öffentliche Flächen kon­trol­liert. Der sogenannte Platzdienst sei geschult, mehrsprachig, kultursensibel. Es gehe nicht um Verdrängung, sondern um Gewaltprävention.

Der Platzdienst

„Platzdienst im Auftrag des Bezirksamts“, steht auf dem Schild an der Brust von Pete H. Er ist es, der an dem Nachmittag auf dem Hansaplatz S., Arwi M. und die anderen Obdachlosen zum Gehen auffordert. Er spricht Russisch und Polnisch und arbeitet auch auf einem anderen Platz im Bezirk. „Es hat eine Weile gedauert, bis ich mir hier Respekt erarbeitet habe, aber jetzt hören sie auf mich.“ Er erzählt, wie er einem Alkoholiker geholfen habe, der auf Krücken lief, mit einem „völlig vergammelten Bein“. Der sei zu allen aggressiv gewesen. „Aber ich habe zu ihm gesagt, wenn du wirklich willst, helfe ich dir.“ Die Sozialarbeiter des Bezirks habe er gerufen, die hätten sich um Entgiftungskur und alles gekümmert. Neulich sei der Mann gekommen, keine Krücken mehr, ordentliche Klamotten, trocken, wollte sich bedanken. „Ich habe gesagt, bedank dich bei dir selbst.“

Aber es gebe ein paar, nicht viele, die machten immer wieder Stress. Und wegen denen dürfe leider nun auch der „total höfliche Straßenzeitungsverkäufer“ hier nicht mehr stehen. Bis zu 10 Mal, erzählt Pete H., schicke er zum Beispiel S. von seinem Platz vor dem Supermarkt fort. Der habe schon über 200 Anzeigen, sei im Gefängnis und in der Psychiatrie gewesen. „Aber da wollen sie ihn auch nicht, zu aggressiv.“ Nur morgens, wenn er noch nüchtern sei, könne man mit S. reden, erzählt der Apotheker. Jetzt ist es Nachmittag. „Komm her oder ich komm zu dir“, brüllt S. durch die Passage, als er die Reporterin sieht, wie sie mit zwei der obdachlosen Menschen spricht. Es klingt nicht einladend. „Lieber nicht“, sagt auch Arwi M. und schüttelt den Kopf.

„Ja, es gibt hier ernste Probleme, aber Vertreibung war die denkbar schlechteste Lösung“, sagt Philipp Harpain, Leiter des Grips Theaters, vor dessen Türen die Zone der neuen Platzordnung beginnt. Harpain hat vor 18 Jahren sein erstes Stück am Grips Theater inszeniert – über Obdachlosigkeit. Bei der Feier zum 50-jährigen Jubiläum des Hansaviertels hätten am Ende die Obdachlosen den Platz gefegt. „So sauber war der noch nie“, erzählt Harpain. Man habe doch nicht immer wieder mit Politik, Polizei und Gewerbetreibenden zusammengesessen, damit diese Menschen jetzt alle über einen Kamm geschert und vertrieben werden. „Kontakte und Schnorren sind doch nicht das Problem“, sagt Harpain und wünscht sich Begegnung auf diesem Platz, der einst genau dafür gestaltet wurde.

Philipp Harpain, Leiter des Grips Theaters am Hansaplatz

„Kontakte und Schnorren sind doch nicht das Problem“

Das wünschen sich auch die Streetworker von Gangway, die das Vorgehen des Bezirks juristisch prüfen lassen wollen und denen der Bezirksbürgermeister mangelnde Kooperation vorwirft. „Wir lassen uns nur nicht für Sicherheitszwecke instrumentalisieren“, sagt Abel. Man prüfe die Bedenken von Gangway, verspricht der Bezirksbürgermeister.

Wenn der Platzdienst da ist, sei Ruhe, freuen sich dagegen die Ladenbesitzer und fordern noch mehr Engagement vom Bezirk. Denn sobald Pete H. und seine Kollegen verschwinden, kommen die Menschen zurück, die auf dem Hansaplatz um ein paar Cent betteln, schlafen, hausen. „Was sollen wir auch sonst machen“, sagt Arwi M.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.