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: Maske ist inzwischen eigentlich mehr Maskerade

Zischende Shisha-Pfeifen, auf dem Trottoir Kunstledersessel zum Sitzkreis gerückt, drumherum drängen sich ein gutes Dutzend junger Männer mit Vollbart und in Trainingsanzügen, in deren Taschen sich große Smartphones abzeichnen. Ich traue meinen Augen nicht, als ich den Platz der Luftbrücke überquere und auf die lange Straße nach Schöneberg einbiege. Von der Quarantäne-Müdigkeit, die sich langsam, aber sicher auf dem Globus breitmachen soll, hatte ich schon gehört.

Klar, die Cafés sind wieder voll. Bei Edeka dirigieren die Türsteher keine Schlangen mehr, drinnen rempelt man sich schon wieder an. Maske ist inzwischen eigentlich mehr Maskerade. Überhaupt beschleicht mich in der letzten Zeit das Gefühl, dass die Luft raus ist aus diesem zum Platzen gefüllten Luftballon Lockdown, Stillstand, Ausgangssperre. Unmerklich franst diese gespannte Leere, das Exil, das für Camus die Pest den Menschen angeblich als Erstes bringt, seit Tagen an den Rändern ins Nichts aus. Richtig sehe ich diese ins exzessive Gegenteil umschlagende Niedergeschlagenheit aber erst heute Nacht, als ich zu meinem Corona-Ritualgang starte, um in meinem Kiez nach dem Rechten zu sehen. Und mich von der trüben Aussicht einer lächelnden Bill-Gates-Diktatur mit Impfzwang abzulenken.

Kein cordon sanitaire. Nirgends. Auf dem Bürgersteig komme ich durch die Traube durcheinanderquasselnder Jungs, die vor zwei Bars den lauen Sommerabend genießen, kaum durch. Mädchen sind nicht in Sicht. Es ist Mitternacht, das immer wieder kurz und drohend aufrollende Gewitter, die tropfenden Häuserkanten, die nassen Gehwege stören niemanden.

Masken trägt eigentlich auch keiner. Und endlich haben ihre Kumpel, die im Lockdown ihre blitzenden BMWs mit den abgedunkelten Seitenscheiben ohne bewunderndes Publikum auf Hochtouren durch die menschenleeren Straßen jagen mussten, wieder eine Chance auf die gebührende Aufmerksamkeit. Mit quietschenden Reifen hält eines der hochgetunten Renommierprojektile vor der Mon Chér-Bar und nähert sich der Wasserpfeifen-Corona-Crew mit federndem Macho-Gang auf weißen Sneakers. Ein paar Flaschensammler vor der Pfandleihe auf der anderen Straßenseite lauern auf Leergut. Aber die Jungs trinken nur Tee und Wasser.

Der Verzicht auf Abstandsregeln ist natürlich kein Vorrecht der migrantisch grundierten Adoleszenten. Im Golgatha-Biergarten um die Ecke, nur ein paar Schritte weiter, ist es genauso voll. Auf den Balkons der illuminierten Lofttürme gegenüber singen sie und prosten dem abziehenden Gewitter zu. Überall im Viktoria Park stehen versprengte Gruppen unter nassen Bäumen und lachen.

Mit Kapuze über dem Kopf mache ich mich auf den Weg hoch auf den Kreuzberg. Das im Regen orange schimmernde Schinkeldenkmal ist geschlossen. Davor hat sich eine lärmende Coronaparty-bereiter Jungs in kurzen Hosen und nassen Haaren versammelt. Gefangene werden hier nicht gemacht. Ihre leeren Bierflaschen haben sie auf die Spitzen des Metallgitters gesteckt, die den Treppenaufgang versperren. Von den Füßen des Wasserfalls unten höre ich den Sound der Ghettoblaster. „Ey Alter, ich fass es nicht, ich fass es nicht“, versucht mir einer sein wiedergewonnenes Glück zu verklickern.

Benommen stolpere ich durch den schwül aufgeladenen Kiez nach Hause wie durch eine Sauna. Was genau hatte es mit dieser Pandemie noch mal auf sich? Ich konnte mich an kein Narrativ erinnern.

Wann hatte die unsichtbare Plage angefangen? Hatte sie nicht gerade noch die ganze Welt auf den Kopf gestellt? Wie sollte das weitergehen? Zwei Polizeiwagen mit Blaulicht jagen durch die Bergmannstraße. Beim Mexikaner tanzt eine übermütige Vollversammlung unter den Markisen. Mich überkommt eine große Müdigkeit. Ingo Arend