Literaturexpertin über Krimis: „Immer die gleiche Polizeiarbeit“

Krimis sind nie einfach Unterhaltung. Sie prägen unser Verständnis von Wahrheit und Gerechtigkeit, sagt Kulturwissenschaftlerin Sandra Beck.

Ice-T gilt als Pionier des Gangsta-Rap. In der Serie „Law & Order“ ist er Ermittler Foto: Universal/RTL

taz : Frau Beck, in den letzten Jahren wurden viele Videos, die Poli­zeigewalt zeigen, in den sozia­len Netzwerken öffentlich gemacht. In Polizeiserien ist die­se Gewalt selten Thema. Warum?

Sandra Beck: Das hat zwei wesentliche Gründe: Der eine betrifft die Produktionsbedingungen für diese Formate. Wer schreibt Drehbücher? Wer finanziert das? Wer führt Regie? Wer gibt die Serien in Auftrag? Aber ganz massiv auch: Welche Expert*innen werden im Vorfeld konsultiert, um diese Fik­tio­nen zu entwickeln? Das Genre befragt nämlich auch oftmals Po­li­zist*in­nen, weil es den Anspruch hat realistisch zu sein. Der andere große Komplex ist die Erzählstruktur.

Wie wird in Polizeiserien erzählt?

Sowohl Täter*innen als auch Er­mitt­ler*in­nen übernehmen im Krimi eigentlich nur eine bestimmte Funktion. Die Tä­te­r*in­nen verursachen eine Störung, das ruft die Ermittler*innen auf den Plan, die versuchen, diese Störung zu heilen, oder zumindest, das Taträtsel zu lösen. Das klassische Erzählprinzip ist: Wer war es und warum? Um diese zentralen Rätselfragen zu lösen, greifen Krimis gezielt darauf zurück, dass sie die Erzählperspektive sehr eng an die Perspektive der Ermittler*innen zurückbinden.

Wir lernen also, Empathie für die Seite der Polizist*innen zu entwickeln?

Ja, auch weil die Seite der Tä­ter*in­nen kaum gezeigt wird. Bis wir alle liebenswerten Eigenheiten von Adrian Monk, Ermittler aus der Serie „Monk“, und die Art und Weise, wie er seine Ermittlungen führt, kennengelernt haben, vergeht so viel Zeit, dass den Täter*innen kaum mehr Erzählraum gegeben werden kann.

In Ihrem Essay mit dem Titel „Die zwei Seiten von Law & Order – Über die kulturelle Diskrepanz von Bildern“ schreiben Sie, die Erzählstruktur der Krimis „ist darauf zugeschnitten, Zuschauer*innen zu überzeugen, sie würden als Teil der Polizei ähnlich denken, fühlen und handeln“. Was steckt dahinter?

Ermittler*innen bekommen in aktuellen Krimiserien immer mehr Raum für ihre persönlichen Geschichten. Es sind traumatisierte, versehrte Figuren, die uns da präsentiert werden. Befunde aus der Emotionsforschung zeigen: Je detaillierter Figuren in ihrem Handeln vorgestellt, auch psychologisch nachgezeichnet werden, desto tiefer werden wir als Zu­schauer*in­nen in diese erzählte Welt verstrickt. Polizeiserien haben einen gleichbleibenden Cast von Er­mitt­ler*in­nen, während das Gegenüber, die Tä­ter*in­nen, jede Folge aufs Neue entdeckt werden. Er­mitt­ler*in­nen werden uns bekannter, wir kennen deren Namen, deren Biografien und psychologische Belastungen.

Was folgt daraus?

Wir als Zuschauer*innen werden in die Lage versetzt, den emotionalen Zustand von Po­li­zist*in­nen zu verstehen und ihren Blick auf die Welt zu übernehmen. Und wir können uns rational erklären, warum sie handeln, wie sie handeln. Und empfinden eine gewisse emo­tio­nale Verbundenheit mit ihnen.

Welche Funktion übernehmen Täter*innen?

Krimis konzentrieren sich immer auf die Wahrheitsfindung. Wie wird die Wahrheit der Tat herausgefunden? Wie werden Schuldige ermittelt? Das lässt sich so weit auf die Spitze treiben, dass Täter*innen in dieser erzählten Welt gar nicht mehr vorkommen. Sie sind zwar ­Erzählanlass, aber sie bekommen kaum eine Stimme oder psychologisches Profil. Wir sind es gewohnt, wenig über ihre ­Gedanken- oder Gefühlswelt mitzubekommen, sondern sehen Po­li­zist*in­nen zu, die Tä­ter*in­nen auf der Spur sind.

Hat diese Erzähllogik Einfluss darauf, wie reale Polizeiarbeit bewertet wird?

Das ist nicht so leicht zu beantworten. Fiktionen entstehen nicht im luftleeren Raum. Und sie werden auch nicht im Luftleeren rezipiert, sondern sie prägen unsere Vorstellung von der Welt, davon, worauf wir uns verlassen können, mit was wir rechnen müssen – ob es das Konzept der romantischen Liebe ist oder eben die Polizeiarbeit. Ich glaube tatsächlich, dass es einen Effekt gibt, weil in unterschiedlichen Besetzungen und unterschiedlichen Kontexten immer die gleiche Vorstellung von Polizeiarbeit gezeigt wird.

Sandra Beck ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin an der Universität Mannheim. Sie forscht zu Kriminalliteratur, zur Genretheorie und zu erinnerungskulturellen Fragestellungen.

Welche Vorstellung ist das?

Diejenige, dass mit dem Eintreffen der Polizei alles gut wird. Ihr Eintreffen steht für Sicherheit und Gerechtigkeit. Es markiert das Ende des Verbrechens und den Beginn der Aufklärungsgeschichte, die mit einer gerechten Strafe schließt.

Polizeiserien wie die US-amerikanische Produktion „Law & Order“, die seit 1999 mit 21 Staffeln erfolgreich ist, haben eine ziemlich diverse Besetzung. Machen die etwas anders?

Der Cast von „Law & Order“ ist von Beginn an deutlich diverser als die Besetzung der Mehrzahl der deutschen Politiktalkshows. Aber das Problem ist, dass diese Diversität kaum die Perspektive bestimmt.

Was meinen Sie damit?

Diese Figuren verkörpern trotzdem den Blick der Polizei. Die Erzähllogik von „Wir gegen die“ und „Wir als Rechtsinstanz und Verfolgungsinstanzen gegen Tä­ter*in­nen“ bleibt bestehen.

Das heißt, selbst wenn es Schwarze Figuren gibt, werden diese aus einer weißen Perspektive erzählt?

Genau. Es bleibt die Logik einer weißen, patriarchalen Welt. Vorstellungen von Rationalität, von Wahrheit, von Wissen und Erkenntnis werden in den Serien als universale Wahrheit kommuniziert. Die Art und Weise, wie Wahrheit ermittelt wird, bildet die mögliche Vielfalt nicht ab.

Krimiserien haben den Anspruch, realistisch zu erzählen. Es heißt dann oft, die erzählten Geschichten stammten aus dem realen Leben. Erzählungen von Rassismus oder rassistischer Polizeigewalt tauchen aber selten auf. Wie kann das sein?

Es gibt diese krasse Kluft zwischen der erzählten Menschlichkeit der Ermittler*innen und der wirklichen Unmenschlichkeit dokumentierter rassistischer Polizeigewalt im echten Leben. Für Menschen, die Rassismus und rassistischer Polizeigewalt ausgesetzt sind, ist diese Kluft natürlich weitaus kleiner als jetzt aus meiner Perspektive als weiße Europäerin. Ich würde aber nicht sagen, dass in Polizeiserien Fälle von Rassismus zwangsläufig marginalisiert werden. Diese Fälle haben in Serien aber immer Einzelfallstatus, und es stärkt im gewissen Sinne die Position der Polizei.

Wie geschieht das?

Ermittler*innen und Po­li­zist*in­nen werden als diejenigen vorgestellt, die gesellschaftliche Konfliktfelder und rassistische Konflikte in der Community lösen können und damit auch gesellschaftlichen Frieden stiften. Weil sie auf einer Gleichbehandlung vor dem Gesetz beharrten.

Rassismus wird also nicht als strukturelles Problem dargestellt und Polizist*innen dafür als Held*innen.

Was diese Serien immer wieder kommunizieren, ist, dass es kontraproduktiv sei, wenn sich die Medien oder Bürgerrechtsgruppen einmischen, weil das alles zu einer Emotionalisierung führe, zu Chaos, zu weiteren gewaltsamen Übergriffen. Dass das sowieso alles nicht notwendig sei, weil sich die Polizei eben kümmere. Dass Polizist*innen immer damit beschäftigt seien, emotionale Reaktionen so weit zu unterbinden, dass der gesellschaftliche Frieden nicht gestört werde. Polizeiarbeit wird da also als etwas Versöhnendes und Heilendes dargestellt.

Wie sähe eine neue Ethik des Erzählens im Krimi aus?

Eines der grundlegenden Probleme ist, dass immer nur die eine Wahrheit erzählt wird. Und die war lange an eine westliche, europäische, weiße Per­spektive gekoppelt. Polizeiserien können aber durchaus zeigen, dass es eben nicht nur die eine Perspektive auf Wahrheit gibt. Oder den einen Blick auf Täter*innen als diejenigen, die verfolgt, vor Gericht gestellt und weggesperrt werden. Ich glaube, Serien sollten sich trauen, Zuschauer*innen etwas zuzumuten: nämlich sich selbst infrage zu stellen und auf ­spektakuläre Serienmörderplots, die wir sehr gut von uns weghalten können, zu verzichten. Verbrechen müssen stärker in ihren sozialen Kontexten beleuchtet werden, also die Frage gestellt werden: Welches Verbrechen ist denn eigentlich symptomatisch für welche Gesellschaft? Das würde bedeuten, dass wir den Fokus von ­Gewaltverbrechen wegnehmen und uns zum Beispiel stärker der White-collar-Kriminalität zuwenden, also Straftaten, die in privilegierten Gesellschaftsschichten vorkommen. Denn die werden bislang nicht so oft thematisiert. Und wenn Krimiserien den Anspruch haben, realistisch zu erzählen, müssen sie sich den Verbrechen zuwenden, die die gesellschaftliche Realität bestimmen. Also auch rassistischer Polizeigewalt.

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