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: Arbeit, Facebook, Ruhe, Liebe

Die Geigerin spielt wieder ihr Lied. Sie kann nur das eine, und während des Lockdowns war sie nirgends damit zu hören. Jetzt hockt sie wieder auf der Verkehrsinsel am Hermannplatz oder auf der Hobrechtbrücke und spielt ihr Lied. Es ist immer dasselbe, sie kann nur das eine. Es ist „Bésame Mucho“. Übersetzt: Küss mich sehr oder oft oder hart oder fest oder viel.

Arbeit, Facebook, Ruhe, Liebe. Die sozialen Kontakte sind immer noch seltsam. Haptikforscher raufen sich die Haare. „Eine partnersuchende, zukunftshungrige Generation sei quasi auf Kontakt null gesetzt worden“, sagt einer von ihnen im Deutschlandradio. Am Freitagabend begegnen wir dieser Generation auf der Weserstraße. Während wir noch vorsichtig vor der Bar sitzen, mit Abstand und an der frischen Luft, sammeln sich auf dem Gerüst am Haus gegenüber mehrere Angehörige dieser Generation; auch ein ikonografisches Bild, denke ich, und: Das ist Berlin, das ist fast so wie in dem Sommer, als alle im offenen Gleisbett der Straßenbahn auf der Kastanienallee saßen, wann war das, 2006? Dann stellt jemand genau über unseren Köpfen eine Box, einen Lautsprecher, ins offene Fenster und los geht es mit sehr lauter Musik. Irgendwas Elektronisches mit Stimme, entfernt an James Blake erinnernd.

Hilfesuchend blicken wir nach dem Wirt, doch der zuckt nur die Achseln, und als das erste Lied zu Ende ist, geschieht was? Richtig, es gibt Applaus von denen auf dem Gerüst! Und zwar echten Applaus, keinen ironischen. Es ist ein echtes Corona-Freiluftkonzert, zum Glück ist es angenehm kurz. Wir setzen uns um, und später setzen wir uns gar rein, in die Bar, weil es frisch wird und zu regnen beginnt.

In der Bar ist alles nach Vorschrift aufs Hygienekonzept ausgelegt. An der Theke sitzt niemand, die Tische vorne am Rand sind nur abwechselnd belegt. Wir setzen uns in den hinteren Raum, wo viele kleine Tische stehen, als eine Gruppe junger Leute, etwa acht Leute, hineinkommt und kurzerhand zwei, drei Tische zusammenschiebt. Meiner Begleitung wird das dann doch zu heikel, wir stellen uns unter den Türsturz, so sind wir noch halb draußen, ich denke, Corona ist vorbei. Zumindest für diese Generation. Abstand ist wichtig, Nähe ist wichtiger, der Tod ist furchtbar, und doch zieht wieder alles zum Leben.

Später bringe ich meine Begleitung zur U-Bahn, sie setzt sich die Mundschutzmaske auf und umarmt mich zum Abschied.

Und doch muss die Sehnsucht nach Entwarnung noch eine Sehnsucht bleiben. Zu Hause entdecke ich, dass meine Teller Corona haben, jedenfalls steht das hinten drauf, so heißt wohl die Porzellanmanufaktur, die Teller kommen ursprünglich aus Kolumbien, ich habe sie aus einem „Zu verschenken“-Karton. In der Nacht träume ich, ich würde durch Kolumbien reisen, dabei war ich noch nie in Südamerika. Die Bahnhöfe in Kolumbien sehen aus wie alle Bahnhöfe, und Kaffee gibt es auch, die Unterkünfte scheinen hingegen nur aus riesigen Speicherräumen zu bestehen, in denen Party gemacht werden kann. Dann gibt es Freunde und Verwandte, Männer, die mir viel zu nahe kommen, während die Frauen alle auf Abstand bleiben, ein trauriger Traum. René Hamann