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Und es hat Zoom gemacht

Unser Alltag wird auch künftig stärker von Kontakten per Videogespräch geprägt sein. Neben Präsenzveranstaltungen bieten digitale Kanäle neue Möglichkeiten, die gewohnte Methoden ergänzen. Auch beim Doc und an der Kasse weht ein neuer digitaler Wind

Ruhe im Wald oder voll vernetzt? Aus dem Entweder-oder wird ein Sowohl-als-auch Foto: Cultura/mauritius images

Von Ansgar Warner

So sehen Krisengewinner aus: Während viele Menschen um den Globus von Existenznöten geplagt sind, ist Eric Yuan in Champagnerlaune. Der 50-jährige amerikanische Geschäftsmann mit chinesischen Wurzeln hat schon vor fast zehn Jahren ein zunächst wenig beachtetes Start-up zum Thema Videotelefon-Konferenzen gegründet. Dann kam der Corona-bedingte Lockdown – und alle kannten plötzlich „Zoom“ – nicht nur Menschen, die sowieso schon dauernd was mit Medien machen, sondern plötzlich auch Kindergärtner, Großeltern oder Kneipenwirte. „Die Zahl der Anwendungsmöglichkeiten ist geradezu explodiert, als die Menschen Zoom in ihren Beruf, ihren schulischen und beruflichen Alltag integriert haben“, so die Bilanz von Yuan nach fast einem halben Jahr globaler Pandemie.

Manches Gezoome war kreativ und lustig, anderes eher aus der Not geboren und nur ein schwacher Ersatz des richtigen Lebens, in einigen Fällen wurde nur ein Trend verstärkt. So war in manchen Familien der Skype-Abend mit den Großeltern etwa schon vor Corona längst Usus, über mehrere Bundesländer verteilte Teams in größeren Unternehmen waren es ebenfalls gewohnt, ihre Gesprächspartner nur auf dem (Groß-)Bildschirm zu sehen. Comickünstler, die Live-Zeichnen vor der Kamera als Ratespiel mit Gewinnmöglichkeit einsetzen, Wohnzimmerkonzerte von Starpianisten oder auch das gemeinsame Trinken am Online-Tresen dagegen kannte man noch nicht, und wird man wohl bald wieder vergessen dürfen.

Was bleiben könnte, ist zum Beispiel die Videosprechstunde bei Ärzten und Psychotherapeuten – inklusive der Neuanmeldung per Kamera: „War der Patient bisher noch nie in der Praxis, hält er zu Beginn der Videosprechstunde seine elektronische Gesundheitskarte in die Kamera“, heißt es etwa bei der kassenärztlichen Bundesvereinigung. „So kann das Praxispersonal die Identität prüfen und die notwendigen Daten erfassen. Der Patient bestätigt zudem mündlich, dass ein Versicherungsschutz besteht.“

Multimilliardär Eric Yuan wird davon freilich nicht profitieren, denn im Gesundheitsbereich dürfen nur ganz bestimmte, in puncto Sicherheit und Datenschutz zertifizierte Video-Apps genutzt werden. Völlig virtualisieren wird sich das Gesundheitswesen ohnehin nicht. Damit Krankenkassen die volle Beratungspauschale vergüten, muss mindestens ein persönlicher Kontakt zum Patienten pro Quartal erfolgen, sprich: offline.

Datenschutz in der Arztpraxis: Anmeldung und Sprechstunde per Video?

Auch das Online-Dating ist um eine Attraktion reicher: statt bei einem Spaziergang auf Abstand fand der „Erstkontakt“ auf Portalen wie Parship, Elitepartner oder OKCupid zu Zeiten der Kontaktsperre wahlweise per Videochat statt – nicht ganz unwichtig in Zeiten, in denen sich die Berliner Polizei via Twitter genötigt sah, selbst zum Thema Rendezvous auf die Abstandsregelungen zu verweisen, wenn auch mit Augenzwinkern.

Vielleicht ist ja das Autokino die beste Möglichkeit, sich auch bei der nächsten Infektionswelle ungestört außerhalb der eigenen vier Wände zu treffen – jedenfalls erlebt das längst totgesagte Medium derzeit eine irre Renaissance. Die Bundesnetzagentur spricht von mehr als 100 Projekten in Deutschland. Sie muss es wissen, wegen der notwendigen Tonübertragung per UKW ans Autoradio brauchen die Betreiber eine Lizenz. Weiteres Zeichen der neuen Medienzeit: Media Control veröffentlicht derzeit statt Kino- nur wöchentliche Autokinocharts.

Was bleiben wird, ist wohl auch, dass wir ein Volk von Netflixern geworden sind – die Zahl der Abonnements für den Strea­ming-Dienst wuchs im ersten Quartal doppelt so schnell wie eigentlich erwartet. Ähnlichen Nutzerzuwachs vermeldet auch Amazon und Disney für ihre Bewegtbild-Flatrates.

Verlierer des Quartals ist dagegen neben den Kinos auch der Buchhandel, die Umsätze sanken laut Börsenverein des deutschen Buchhandels um 20 Prozent. Eine besonders spektakuläre Bruchlandung legte dabei, wen wundert’s, das Reiseführersegment hin. Denn auch wenn die Straßen wieder voller Autos sein mögen, Kondensstreifen am Himmel sind eher rar. Fernreisen im bisherigen Umfang gehören auch nach dem Ende des Lockdowns erst einmal der Vergangenheit an. Während die einen gleich auf „Staycation“ setzen – sprich: Urlaub auf Balkonien, weil die Urlaubskasse ohnehin leer ist oder die Urlaubstage aufgebraucht sind, planen die anderen Holiday in deutschen Landen, erreichbar per Bahn oder idealerweise Auto.

Nach dem Lockdown wird vieles anders sein als vor der Coronakrise. Mit dem richtigen Neustart kann vieles auch besser werden. Ein Blick auf die Möglichkeiten: von der Digitalisierung vieler Lebensbereiche über neue Energie und andere Wege auf dem Land – bis hin zu einem anderen Blick auf Leben und Tod.

Überhaupt gehört der motorisierte Individualverkehr neben dem Fahrrad zu den Gewinnern der Coronakrise, darüber können auch provisorische neue Fahrradspuren in vielen deutschen Innenstädten nicht hinwegtäuschen. Der öffentliche Nahverkehr dagegen geht schweren Zeiten entgegen, ohnehin unterfinanziert, brechen nun auch noch die Fahrscheineinnahmen weg.

Wie tief das derzeitige Bedürfnis nach Sicherheit die gewohnten Vorstellungen und Verhaltensweisen umkrempelt, zeigt nicht zuletzt ein Blick auf unser Verhältnis zum Bargeld: dem Einzelhandelsinstitut (EHI) zufolge sank die Barzahlungspräferenz bei den Kunden von präpandemischen 38 Prozent auf postpandemische 18 Prozent. Im Einzelhandel wurden nach dem Lockdown plötzlich 55 Prozent der Umsätze mit Karte gezahlt, mehr als die Hälfte der Kartennutzer blechten zudem kontaktlos.

Ein Trend, der wohl dauerhaft sein wird, zumal er während der Krise einen anfänglichen Analogreflex ablöste. Ähnlich wie zu Beginn der Währungs- und Finanzkrise 2008 stieg nämlich im März zunächst der Bargeldumlauf, aber offenbar ebenfalls zu Einkaufszwecken, denn anders als vor 12 Jahren wurden vor allem kleine Scheine gehortet. Aus ganz praktischen Erwägungen zückten die Verbraucher dann aber recht bald mehrheitlich die Karte.