Proteste gegen Polizeigewalt: Achtung, Anarchisten!

Donald Trump wütet gegen die Protestbewegung in seinem Land, diffamiert sie als anarchistisch. Er hat keine Ahnung, wovon er redet.

Junge Männer rennen mit ihrer Beute in die Nacht

Übertretungen des Widerstands wie hier in Minneapolis werden mit der Lupe betrachtet Foto: John Minchillo/ap

ANARCHISTS!“, schimpfte Donald Trump auf Twitter, kaum waren die Proteste gegen den Mord an George Floyd ausgebrochen. Es ist verwunderlich, dass der Präsident so genau über die politischen Überzeugungen der überwiegend Mund-und-Nasen-Schutz tragenden Demonstranten Bescheid wusste (was für eine Ironie, dass quasi über Nacht das Vermummungsverbot in ein Maskierungsgebot umgewandelt wurde). Es verwundert aber nicht, dass er just diesen Begriff verwendete. Seit je wird der Anarchismus, angeblich ein weltfremder Unsinn, auf diese und ähnliche Weise diffamiert, um sich nicht ernsthaft mit einer wichtigen politischen Weltanschauung beschäftigen zu müssen. In mediengängigen Formulierungen wie etwa: „In Somalia herrscht Anarchie.“

Genauer besehen ergeben solche Zuschreibungen wenig Sinn. Anarchie bedeutet im Griechischen „ohne Herrschaft“, doch die derart bezeichneten Verhältnisse leiden meist nicht an zu wenig, sondern an zu viel Herrschaft. In Somalia etwa an der Allmacht der Warlords und der fanatischen Al-Shabaab-Sekte. Wenn also von „Anarchisten“ gesprochen wird, die auf nächtlichen Straßen „wüten“, ist vielmehr beabsichtigt, diese Menschen als gesetzlose Vandalen abzutun. Als Barbaren also. Als Feinde der Zivilisation, die bekämpft oder gar vernichtet werden müssen. Jene, die um ihre Rechte kämpfen, werden nach althergebrachten Mustern entrechtet, was ihren Protest erst recht rechtfertigt.

Präsident Trump dürfte sich mit Anarchismus genau so wenig beschäftigt haben wie mit Sozialismus oder Liberalismus. Hätte er auch nur einige Seiten von, sagen wir, Michail Bakunin oder Emma Goldman, Erich Mühsam oder Murray Bookchin gelesen, wäre er erstaunt, dass Anarchismus nicht die Plünderung eines Foot-Locker-Ladens (schicke Sneakers!) bedeutet, sondern das Streben nach größtmöglichem Gemeinwohl bei größtmöglicher individueller Freiheit. Also das Gegenteil von neoliberaler Ausbeutung und polizeilicher Willkür.

Gewiss, es gibt auch im Anarchismus viele Strömungen, aber eines haben sie doch gemein: Solidarität als gesellschaftliches Grundprinzip, nicht Konkurrenz und Rivalität. Anders formuliert: Denkt man die Losungen der Französischen Revolution sowie die Allgemeinen Menschenrechte logisch zu Ende, landet man beim Anarchismus, nicht bei Donald Trump oder einer Polizei, die BürgerInnen umbringt. Letzteres verstößt natürlich gegen das Recht, nicht nur das national kodifizierte, sondern das universell humane. Die Rechtlosen sind somit nicht die als gesetzlos beschimpften Protestierenden, sondern jene, die andere Menschen misshandeln, foltern oder gar töten.

Paramilitärisch ausgerüstete Sicherheitskräfte

Wäre dies ein Einzelfall, könnte man die jetzige Rebellion als übertriebene Reaktion erachten. Aber es handelt sich nicht um eine Ausnahme, sondern um eine weitere unter vielen individuellen Tragödien. Im Jahr 2016 wurden in den USA 1.093 Menschen von der Polizei getötet (vergangenes Jahr 1.042). Der Guardian machte sich vor einigen Jahren die Mühe, diese Fälle zu dokumentieren (zu finden unter „The Counted“), und die Lektüre der kurzen Nachrufe ist herzzerreißend. Die Opfer sind psychisch kranke Nackte, traumatisierte Veteranen, gläubige Rentner, deren Kruzifix als Waffe angesehen wurde, wegen einer Bagatelle Verhaftete, die getasert wurden und keine medizinische Betreuung erhielten, fälschlich Beschuldigte.

AnarchistInnen sind der festen Überzeugung, dass es bessere Formen des sozialen Miteinanders gibt als das Aufmarschieren paramilitärisch ausgerüsteter Sicherheitskräfte, die zuschlagen oder schießen, bevor sie Fragen stellen. Insofern hat Präsident Donald Trump doch recht, wenn er von „Anarchisten“ spricht: Die vielen Menschen auf den Straßen, inzwischen nicht nur in den USA, verlangen eine bessere Welt, und wie ernst es ihnen damit ist, beweist die Tatsache, dass sie sich in Zeiten der Pandemie einer doppelten Gefahr aussetzen.

Machtlegitimierung basiert oft auf absurden Rechtfertigungen, weswegen ein US-Senator wie Tom Cotton mit dem Spruch „Null Toleranz gegenüber Gewalt“ ein hartes Vorgehen von Polizei und sogar Armee fordern kann, obwohl sich die Proteste gerade gegen die systematische Tolerierung staatlicher Gewalt richten. Ob es sich nun hierbei um zweierlei Maß oder hochamtliche Heuchelei handelt, der anarchistisch geschulte Blick gehört zu den schärfsten Instrumenten, solche verlogene Rhetorik der Macht zu entlarven.

Nicht zum ersten Mal löst ein gewalttätiges Eingreifen der Polizei Gegengewalt aus, die wiederum ein gewalttätiges Eingreifen der Polizei hervorruft. Ein Teufelskreislauf. Die Opfer sind dieses Mal übrigens auch viele JournalistInnen, die teilweise absichtlich mit Pfefferspray besprüht oder mit Gummikugeln beschossen wurden. Kein Wunder, gelten sie doch neuerdings wieder als „Volksfeinde“.

Zorn der Entrechteten

Die Feministin und Aktivistin Tamika Mallory zerfetzte letzte Woche in einer wütenden, im Internet weit verbreiteten Rede einen eklatanten Widerspruch: Verfechter einer Wirtschaftsweise, die massenhaft Menschen sowie den Planeten ausplündert, empören sich geradezu hysterisch, wenn die Entrechteten in ihrem seit Jahren und Jahrhunderten aufgeladenen Zorn einige Geschäfte plündern. Im Original: „Looting is what you do. We learned it from you.“ Sie steht damit in der kritischen Tradition, immer wieder darauf hinzuweisen, dass die Verbrechen des herrschenden Status quo mit verschlossenen Augen, die Übertretungen des Widerstands hingegen mit der Lupe betrachtet werden.

Wenn also jemand wie Donald Trump Protestierende als Anarchisten beschimpft, sollten all jene, die sich eine gerechtere Welt wünschen, lautstark erwidern: Ja, wir sind Anarchisten. Und das ist gut so.

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