In der Not eine Tugend

International und besonders groß sollte das Live-Art-Festival von Kampnagel in Hamburg werden. Daraus wird wegen Corona nichts. Nun findet es kleiner statt und die Dramaturgin Nadine Jessen sieht es als Chance, nicht mehr an das große Publikum denken zu müssen

Rückbesinnung auf die Anfänge: Die ersten Aktionen von Gintersdorfer/Klaßen im öffentlichen Raum waren vor 15 Jahren unangemeldet Foto: Knut Klaßen

Von Robert Matthies

Eigentlich hätte es dieses Jahr eine besonders große Ausgabe des Live-Art-Festivals auf Kampnagel in Hamburg geben sollen. Wie gewohnt mit vielen internationalen Künstler:innen und auch Aktivist:innen, die mit lokalen Zusammenhängen gemeinsam Projekte entwickeln. „Communing the Bubble“ hieß die Devise: Positive Utopien aus aller Welt wollte Kampnagel-Dramaturgin Nadine Jessen miteinander verknüpfen.

Gut in die Zeit hätte das gepasst: Das brasilianische Coletiva Ocupação etwa, eine Gruppe Schüler:innen, hat aus den Erfahrungen der Schulbesetzungen, mit denen sie 2015 gegen umfangreiche Schulschließungen in São Paulo protestierten, eine Performance entwickelt. Zeigen soll die, welche persönlichen Risiken junge Menschen nicht nur in Brasilien auf sich nehmen, wenn sie politischen Widerstand leisten. Entstanden wäre in Hamburg eine gemeinsame Arbeit mit „Fridays for Future“-Aktivist:innen.

Aber spätestens im März, erzählt Jessen, mitten in den Planungen fürs Festival, sei klar gewesen: Es passt doch nicht in die Zeit. Alle Grenzen, die wegen der Coronapandemie dicht gemacht werden, gehen so schnell nicht wieder auf – das wird bis Juni nichts. „Wir haben sofort alle Künstler:innen kontaktiert, die wir schon eingeladen hatten und haben gefragt: Können wir das auf 2021 verschieben?“

Plötzlich Pragmatismus

Und plötzlich sei es in den Gesprächen nicht mehr ums Festival und die Projekte gegangen, sondern „wir wurden ganz pragmatisch“, sagt Jessen. „Als wir mit den Brasilianer:innen gesprochen haben, da hat Bolsonaro jede Hand geschüttelt und behauptet, Corona sei nur eine leichte Grippe. Dann ging es um Physical Distancing und Händewaschen, darum, wie man sich schützen und das kommunizieren kann. Und man hat mitbekommen, in was für bedrohlichen Situationen unsere internationalen Partner stecken.“

Die Frage sei dann gewesen, wie sich trotz geschlossener Grenzen die Internationalität des Festivals bewahren lässt, wie die Arbeitsnetzwerke mit internationalen Künstler:innen, die in den vergangenen 15 Jahren entstanden und aufrechterhalten worden sind, weiterhin unterstützt werden können. „Da haben wir ja ohnehin oft mit Hindernissen zu kämpfen, mit abgeschotteten europäischen Grenzen und so weiter“, sagt Jessen. „Aber diese Situation, dass wirklich alle Leute festsitzen und Nachrichten schicken, wie schlecht es ihnen geht, die hatten wir alle so noch nicht.“

„Diese Situation, dass wirklich alle Leute festsitzen und Nachrichtenschicken, wie schlecht es ihnen geht, die hatten wir alle so noch nicht“

Nadine Jessen, Kampnagel-Dramaturgin

Aus Pragmatismus „und auch um die Verzweiflung und die Hilflosigkeit nicht so groß werden zu lassen“, sagt Jessen, sei die Idee entstanden, sich auf die Ursprünge und methodischen Anfänge der Live-Art zu besinnen. Denn die sei eben immer schon kleinteilig gewesen. Die ersten Aktionen der deutsch-französisch-westafrikanischen Performance-Gruppe Gintersdorfer/Klaßen vor 15 Jahren etwa waren unangekündigte Aktionen im öffentlichen Raum, die ihr Publikum erst in der Aktion finden mussten und nicht von vornherein mit ihm rechnen konnten.

Ohne aus der Not eine Tugend machen zu wollen, mache es diese Kleinteiligkeit der Live-Art jetzt zumindest einfacher, sich flexibel an die Corona­situation anzupassen, sagt Jessen: „Wir kommen aus diesen kleinen Strukturen, wo man nie für viele Menschen ein Programm gemacht hat. Und jetzt muss man nicht mehr ans große Publikum denken, Nischen sind auf einmal groß genug – und es ist nicht mehr so eine Schande, wenn nicht so viele kommen.“

Die Erfahrung der Verzweiflung und Hilflosigkeit der internationalen Festival-Partner:innen sei noch durch das kontrastiert worden, „was sich da vor der Volksbühne zusammengebraut hat“, sagt Jessen. „#ZivilerGehorsam“ lautet deshalb nun der Festival-Claim, der sich – das betont Jessen angesichts der antirassistischen Proteste nach dem Mord an George Floyd – ausdrücklich auf deutsche Verhältnisse beziehe und den Aluhüten entgegengehalten werde, die sich schon in einer Diktatur wähnen, weil sie im Supermarkt Mund-Nasen-Masken tragen müssten.

Performances im Paket

Deshalb – und weil die Taktik der Theater, sofort alles ins Digitale zu übertragen, ästhetisch derzeit so oft hilflos wirkt – setzt das Festival ganz aufs Analoge, aufs Zusammenkommen unter freiem Himmel – aber im Rahmen der bestehenden, sich aber eben auch derzeit rasant ändernden Regeln. „Es ist ein Experiment, sich maximale Freiheit bei maximaler Sicherheit innerhalb der aktuellen Bedingungen zu nehmen. Zu zeigen, was da trotzdem möglich ist“, sagt Jessen.

Drei kleinteilige Projekte immerhin konnten dafür nun kurzfristig auf die Beine gestellt werden. Gintersdorfer/Klaßen laden noch heute und morgen Abend ein, auf der Piazza vor dem Haupteingang vor einer „skulpturalen Hommage“ auf die längst abgerissenen Maquis – Restaurants und Bars – im Amüsierviertel Yopugon in Abidjan im westafrikanischen Côte d’Ivoire zu tanzen. Die waren 2009 nämlich wegen nächtlicher Ausgangsbeschränkungen nur tagsüber geöffnet.

Digitales Phänomen „Unboxing“ ins Analoge übertragen: Die Geheimagentur liefert Performances nach Hause Foto: Geheimagentur

Die Musik dazu kommt von der Goldenen Zitrone Ted Gaier, auf der Bühne stehen je andere Gintersdorfer/Klaßen-Künstler:innen – die in Hamburg sein können. Aber auch jene, die nicht kommen können, entwickeln die Performance-Skulptur mit, indem sie aus Abidjan Texte oder choreografische Anweisungen zu Corona­tänzen beisteuern.

Die Hamburger Geheimagentur wiederum hat ein Angebot für all jene, die lieber zu Hause zivil gehorsam Kunst erleben möchten: Mit Maske und Gummihandschuhen liefern sie Performance-Pakete nach Hause, wo man sie auspacken darf. Und nach ein, zwei Stündchen werden sie wieder abgeholt. Entstanden ist das Projekt schon vor Corona, als Übertragung des Netzphänomens Unboxing-Video – das sind diese Filmchen, in denen Leute auf Youtube zeigen, wie sie Pakete mit Produkten auspacken – ins Analoge. Und plötzlich wirkt es so, als sei das Projekt für pandemische Zeiten entstanden – tatsächlich sind alle Pakete leider auch so schnell ausverkauft gewesen wie geschnitten Klopapier.

Tickets gibt es aber noch für die subversive Performance-Rundreise „Europe to go“ der für ihre anarchische Kraft gefürchteten Österreicher God’s Entertainment übers Kampnagel­gelände. Zu den Ruinen des syrischen Palmyra kann man da unter anderem reisen und zu Schlingensiefs Operndorf in Burkina Faso. Also Maske auf und maximale Freiheit bei maximaler Sicherheit genießen!

„Live Art Festival #ZivilerGehorsam“: bis So, 21. 6., Hamburg, Kampnagel, das ganze Programm gibt es hier: www.kampnagel.de