Jubiläumsausstellung in Wuppertal: Milliarden Menschen kennen ihn

Die Ausstellung zu seinem 200. Geburtstag, „Friedrich Engels – Ein Gespenst geht um in Europa“, konnte endlich in Wuppertal eröffnen.

Gemälde von Friedrich Engels an einer Hauswand mit weiterer Streetart

Aktuell bis heute: Street Art Held Friedrich Engels Foto: Stadt Wuppertal

Der Wuppertaler Oberbürgermeister Andreas Mucke (SPD) wirkt euphorisch, man könnte auch sagen: aufgedreht. Nach der Corona-bedingten Zwangspause kann er endlich die Ausstellung „Friedrich Engels – Ein Gespenst geht um in Europa“ eröffnen, das Herzstück der Feierlichkeiten, mit denen Wuppertal den 200. Geburtstag des Philosophen, Journalisten, Unternehmers, Marx-Freundes und Marx-Förderers, Lebemanns und berühmtesten Sohnes der Stadt begeht. An letzterer Zuschreibung lässt der OB keinen Zweifel: „Ich weiß nicht, wie viele Milliarden Menschen auf der ganzen Welt ihn kennen.“

Man wundert sich schon über die große Verehrung, die Friedrich Engels jetzt aus überraschenden Richtungen entgegenschlägt. Bei Andreas Mucke ahnt man die Gründe noch: „600.000 Touristen kommen aus China, alle bleiben zwei Tage und geben 800 Euro aus“, hatte der chinesische Botschafter Shi Mingde 2014 zur Enthüllung der großen Friedrich-Engels-Statue vorgerechnet, die die Volksrepublik der Stadt an der Wupper geschenkt hatte. Engels ist also ein enormer Wirtschaftsfaktor.

Schon während der Ausstellungsplanung erreichten das Historische Zentrum Wuppertal laut der leitenden Kuratorin Heike Ising-Alms „unwahrscheinlich viele Anfragen aus China“. Man habe extra Studierende in Stellung gebracht, um Führungen auf Chinesisch anzubieten. Nun sind leider wegen der Maßnahmen zur Viruseindämmung momentan weder Touristen zu erwarten noch Führungen erlaubt. Nur abgezählte Besucher mit Atemmaske dürfen hinein.

Bis zu Engels’ Geburtstag am 28. November, das hoffen auch die Stadtoberen, hat sich die Lage vielleicht geändert. Dann folgt ein weiterer Höhepunkt im Engels-Jahr: Die Sanierungsarbeiten am Engels-Haus sollen beendet sein, in dem der Unternehmersohn seine Kindheit und Jugend verbracht hat. Das bergische Wohnhaus, vor dem einst Udo Lindenberg Erich Honecker eine Gitarre überreichte, wird als modernisiertes historisches Museum wieder eröffnen.

„Friedrich Engels – Ein Gespenst geht um in Europa“ läuft bis zum 20. September in der Kunsthalle Barmen. Der Katalog ist im Bergischer Verlag erschienen und kostet 24 Euro. Weitere Infos auch unter www.engels2020.de

„Engels hat ja auch die SPD in ihrer Gründungsphase beraten“, erklärt SPD-Oberbürgermeister Mucke, der mit den anwesenden Journalisten durch die Preview läuft, sie einzeln anspricht und mit seiner Begeisterung ansteckt: „Die Ausstellung ist wirklich klasse geworden!“ Tatsächlich war der Philosoph ein wichtiger Impulsgeber für die Partei, die zu seiner Zeit Arbeiter mit sozialistischer Gesinnung vertreten wollte.

Grußwort von Armin Laschet

Im letzten Raum der Ausstellung, die Engels’ Spätwerk gewidmet ist, erfährt man, dass er auch einen guten Teil seines Vermögens (1.000 Pfund Sterling) den Parteimitgründern August Bebel und Paul Singer vermachte – zur treuhänderischen Verwaltung für die Genossen.

Überraschender als Muckes Begeisterung ist, dass sich im Katalog zur Ausstellung auch ein Grußwort des nordrhein-westfälischen CDU-Ministerpräsidenten Armin Laschet findet. Natürlich räumt der ein, dass die von Marx und Engels entwickelte Utopie des Kommunismus „nicht zur Befreiung, sondern zur Unterdrückung von Millionen Menschen führte“. Aber es klingt auch ein bisschen nach Fanpost: „Mit seinem Denken und Handeln versuchte der Philosoph jenseits aller sozialromantischen Utopien, das System Kapitalismus zu verstehen, um es letztendlich zu überwinden.“

Die Ausstellung leiste einen wichtigen Beitrag, um sein Denken und Handeln vor dem Hintergrund aktueller globaler Herausforderungen und Entwicklungen zu bewerten. „Ob Engels’ Vermächtnis bis heute aktuell geblieben ist? Diese Entscheidung bleibt ihnen überlassen.“

Spätestens seit der Finanzkrise 2008 und nachfolgenden Protestbewegungen wie Occupy wird Marx’ und Engels’ Analyse des Kapitalismus tatsächlich vielerorts wieder vorurteilsfreier rezipiert. Die Ausstellung in Wuppertal ist allerdings nicht in erster Linie darauf angelegt, in Engels’ Denkgebäude einzusteigen, das Berühmtheit vor allem durch die Vollendung des zweiten und dritten Bands von Karl Marx’ „Das Kapital“ erlangte.

Besucher*innen begegnen einem Himmel voller Faksimiles aus Marx’ chaotischem Nachlass aus Tausenden eng mit schwer leserlicher Handschrift beschriebenen Seiten, die Engels neun Jahre lang ordnete und vervollständigte – und dafür eigene Projekte wie die „Dialektik der Natur“ zurückstellte. Mit der Geschichte seines Vermächtnisses setzt sich die Ausstellung gar nicht auseinander, sondern endet mit Engels’ Tod. Sie ist vielmehr Teil dieses Vermächtnisses, das die Welt ins Wanken gebracht hat.

Das Bild des Menschen Friedrich Engels

Die Schau zeichnet mit 300 Exponaten von über 30 Leihgebern vor allem aus Deutschland und England das Bild des Menschen und seiner Lebensstationen nach, der 1820 als erster Sohn des reichen Baumwollfabrikanten Friedrich Engels senior in Barmen geboren wurde, das sich erst nach seinem Tod mit dem benachbarten Elberfeld zu Wuppertal vermählte.

Den aus heutiger Sicht schwierigen Spagat, den Engels zeitlebens ausführte, symbolisieren Ausstellungsstücke wie Schlittschuhe aus dem 19. Jahrhundert (schnürbare Lederriemen über verrosteten Kufen), ein Kartenspiel, ein Fechtdegen und eine Zeichnung, in der sich Friedrich Engels, der zur Zeit seiner Ausbildung gern mit Hängematte und Zigarre im leeren Kontor chillte, selbst karikiert und sein Lebensmotto beschreibt: „Take it easy.“

Dabei kann das eigentlich nicht so leicht gewesen sein: Früh gegen den kapitalistischen und religiösen Geist seiner Heimat aufzubegehren, Anfang des 19. Jahrhunderts frei und republikanisch zu denken, Revolutionär zu sein und gleichzeitig Unternehmer, der an der Börse spekuliert.

Die Schau zeigt auch ein Stück Zeitgeschichte, spannt einen Bogen vom Barmer Bruch zur Industriegeschichte Westeuropas. Zwischen Ölgemälden von Mitgliedern der pietistischen Familie Engels, einem Silberlöffel aus ihrem Nachlass und Friedrich Engels’ weißem Taufkleid, das der Familienzweig von Hermann Engels bis heute benutzt, steht ein großes Modell des Barmer Bruchs, des Ortsteils also, in dem der spätere Revolutionär vor 200 Jahren aufwuchs: Das Gelände sieht dörflich aus, ein U-förmig angeordnetes Gebäudeensemble ist eingebettet in eine gepflegte Kulturlandschaft. Irgendwo weiter unten fließt unbehelligt die Wupper.

Stellt man dagegen, wie dieser Teil der Stadt heute aussieht, wird schlagartig klar, wie rasend schnell und brutal der industrialisierte Mensch seine Umwelt verändert hat, wie aus dem zyklischen Zeitempfinden der landwirtschaftlich geprägten Welt das von optimistischem Fortschrittsglauben beseelte lineare Zeitempfinden des Maschinenzeitalters wurde.

Die radikalen Umwälzungen der Zeit

Heute ist der Barmer Bruch Teil eines Großstadtensembles mit Opernhaus und Autoverwertung. Die Wupper fließt über weite Strecken eingemauert, von oben durch das einmalige ingenieurstechnische Meisterstück der Schwebebahn gerahmt und weiter westlich wie ein Abwasserfluss des großen Chemiewerks von Bayer.

Friedrich Engels konnte die radikalen Umwälzungen seiner Zeit nach einer behüteten Kindheit mit Hausmusik und frommer Erziehung lebendig miterleben. Große schwarz-weiße Wandfotos zeigen historische Aufnahmen Bremens und Berlins, wo Engels freieren Geist atmete.

Teils nie in Deutschland gezeigte Aufnahmen geben ein Bild der „Shock City“ Manchester, in der der von revolutionärem Geist beseelte Unternehmersohn seine kaufmännische Ausbildung beendete und nebenbei an etwas viel Größerem arbeitete: seiner Studie „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“, die in ihren empirischen Ausmaßen damals einzigartig war und den Weg für Marx’ Kritik der Ökonomie bereitete.

Eines der Ausstellungsstücke, die am schwierigsten zu beschaffen waren, ist ein Mäppchen, das einen Garnkatalog von Ermen & Roby, der Nachfolgefabrik von Ermen & Engels, aus dem Jahr 1878 zeigt. Das Historische Zentrum Wuppertal hat für die Leihe aus England 80 Pfund gezahlt (anders als unter deutschen Museen ist es dort üblich, für Verleihung Geld zu nehmen), um überhaupt einen Eindruck der Textilprodukte des Engels-Imperiums zu geben.

Das Mäppchen ist vermackt und zerschlissen, hat heute weder Gebrauchs- noch Tauschwert. Im richtigen Kontext zeugt es heute jedoch vom produktiven Umgang des Menschen mit der Natur und den Verhältnissen, die er sich dabei selbst schafft, denen er sich unterwirft oder gegen die er aufbegehrt. Friedrich Engels hat in einer erstaunlichen, unwahrscheinlichen Biografie beides getan – um dem nachzuspüren, muss man jetzt in seine Heimat fahren.

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