Rückzug von Wolfgang Tiefensee: Der herzenswarme Aristokrat

Als thüringischer SPD-Landesparteichef tritt Tiefensee im November nicht mehr an; bei den Neuwahlen im April will er nicht mehr kandidieren.

Porträt Tiefensee.

Wolfgang Tiefensee weiß, wann es Zeit ist zu gehen Foto: Sebastian Willnow/dpa

In Thüringen und zumindest im Ossiland wird man bald einen charismatischen Typen vermissen. Wolfgang Tiefensee, SPD-Landesvorsitzender und Minister für Wirtschaft und Wissenschaft, zieht sich rechtzeitig vor dem nächsten Gemetzel zurück. Als Landesparteichef tritt er nicht wieder an und will auch bei den Neuwahlen in Thüringen im April nicht mehr kandidieren.

Offiziell gibt der 65-Jährige Altersgründe an, obschon er nach wie vor drahtig wirkt. Aber ein Politiker seines Formats weiß, wann es Zeit für das Ein- und Aussteigen ist. So wie er sich 2002 nicht als Verkehrsminister unter Gerhard Schröder und zwei Jahre später nicht als sächsischer SPD-Spitzenkandidat verschleißen lassen wollte. Als Leipziger Oberbürgermeister aber hat er es ab 1998 zu einiger Popularität gebracht. Als es nach dem schwierigen Wahlergebnis vom Oktober 2019 in Thüringen um eine rot-rot-grüne Minderheitsregierung ging, schnipste Tiefensee nur mit dem Finger. Alles schon erfolgreich praktiziert im Leipziger Stadtrat.

2005 hätte er dann den Verkehrsministerposten in der ersten Merkel-GroKo und später den Ost­beauf­tragten besser ausschlagen sollen. Füh­rungs­schwäche und mangelnde Akzeptanz wurden ihm vorgeworfen. In Thüringen lief es ab 2014 besser. Hinter Ministerpräsident Bodo Ramelow hielt er den zweiten Platz auf der Beliebtheitsskala.

Bei wem auch sonst findet man eine solche Mischung aus rationaler Brillanz des ehemaligen Ingenieurs, aristokratischer Erscheinung und wärmster Verbindlichkeit? Den scheinbaren Widerspruch zwischen Nah- und Unnahbarkeit vereint? Der wohlerzogene, aber DDR-renitente Katholik konnte philosophierend wirklich auf den Grund des tiefen Sees schauen. Er konnte kämpferisch argumentieren, zuletzt auch gegen vorgezogene Corona-Lockerungsabsichten bei seinem Regierungschef. Und der ehemalige Leipziger Bachpreisträger eroberte bei der Olympiabewerbung seiner Stadt für 2012 mit dem Cello und der Intonation von „Dona nobis pacem“ noch einmal die Herzen.

Mit Instinkt ahnt Wolfgang Tiefensee nun, wie die Spannungen in der Quasi­vie­rerkoalition vor der Thüringen-Wahl 2021 wieder aufbrechen werden. Außerdem ist da noch seine jüngere Lebensgefährtin Sibylle Müller. Ihr gemeinsames jugendliches Auftreten wirkt keinesfalls inszeniert.

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Seit 2001 Korrespondent in Dresden für Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Geboren 1953 in Meiningen, Schulzeit in Erfurt, Studium Informationstechnik in Dresden. 1990 über die DDR-Bürgerbewegung Wechsel in den Journalismus, ab 1993 Freiberufler. Tätig für zahlreiche Printmedien und den Hörfunk, Moderationen, Broschüren, Bücher (Belletristik, Lyrik, politisches Buch „System Biedenkopf“). Im Nebenberuf Musiker.

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