Nach zwölf Jahren am höchsten Gericht: Ein unerwartet krawalliges Ende

Seine Zeit an der Spitze des Bundesverfassungsgerichts war geprägt von europarechtlichen Konflikten. Ein Porträt zum Abschied von Andreas Voßkuhle.

Mann mit roter Robe und Mütze in einem Saal

Noch in roter Robe: Andreas Voßkuhle im Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe Foto: Thomas Imo/photothek/imago

Eigentlich ist Andreas Voßkuhle ein Mann der Mitte; einer, der den Ausgleich liebt, also ein idealer ­Verfassungsrichter. „Jede gute Sache wird falsch, sobald wir sie zu Ende denken“, dieses Zitat von Hans Magnus Enzensberger benutzt er gerne. Aber gilt dieser Gedanke für ihn auch, wenn es um die Karlsruher Rolle in Europa geht? Nach dem jüngsten Urteil zur Euro­päi­schen Zentralbank (EZB) kann man daran zweifeln. Denn in einer Mischung aus Rechthaberei und Revierkämpfen droht das Bundesverfassungsgericht dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) Schaden zuzufügen.

Voßkuhle war zwölf Jahre lang Richter am Bundesverfassungsgericht, zehn Jahre lang sogar dessen Präsident. Man spricht inzwischen von einer „Ära Voßkuhle“, die nun zu Ende geht. So viel öffentliche Projektion zogen seine Vorgänger nicht auf sich.

Als Voßkuhle 2008 zum Verfassungsrichter gewählt wurde, war er nur Insidern bekannt. Er war Juraprofessor in Freiburg, galt als moderner Verwaltungsrechtler und war gerade zum Uni-Rektor gewählt worden, als er einen Anruf der damaligen Justizminsterin Brigitte Zypries (SPD) erhielt: ob er sich vorstellen könnte, Verfassungsrichter zu werden. Voßkuhle dachte nur wenige Minuten nach: „Eine solche Anfrage kann man nicht ablehnen.“ Er verzichtete also auf das Rektorenamt, das er nur wenige Wochen innehatte.

Dass Voßkuhle Verfassungsrichter werden sollte, war von der SPD zunächst gar nicht geplant. Ihr eigentlicher Kandidat war der Rechtsprofessor Horst Dreier. Doch die Union protestierte gegen dessen liberale Haltung zur Embryonenforschung. Linke und FDP kritisierten Dreiers vage Position zum Folterverbot. Deshalb zog die SPD Dreier wenige Tage vor der geplanten Wahl zurück und präsentierte stattdessen Voßkuhle, der keine Angriffspunkte bot. Voßkuhle ist parteilos, steht nach eigener Aussage aber den „Grundpositionen der Sozialdemokratie“ nahe.

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Aufgrund der Konstellation im Gericht war von Beginn an klar, dass Voßkuhle besondere Verantwortung übernehmen sollte, zunächst als Vizepräsdident des Gerichts. Zwei Jahre später wählte der Bundestag Voßkuhle dann auch zum Präsidenten des Verfassungsgerichts – zum bislang jüngsten, er war erst 46 Jahre alt. Medien erwähnten damals oft noch seine jungenhaften Gesichtszüge, die er mit einer markanten Hornbrille konterkarierte.

Er wollte nicht Bundespräsident werden

Voßkuhle wurde schnell als neues Gesicht des Karlsruher Gerichts bekannt. Er erwies sich als deutlich fernsehgerechter als sein etwas umständlich formulierender Vorgänger Hans-Jürgen Papier. Voßkuhle spricht in klaren und druckreifen Sätzen, auch wenn er erklärt, wie kompliziert alles ist. Seine Ausstrahlung ist souverän und unprätentiös, seine Stimme ist warm, man hört ihm gern zu.

Gleich nach seiner Wahl zum Verfassungsrichter stellte sich Voßkuhle den Fragen der Presse, ein Novum. Auch suchte er bald das Gespräch mit der Politik, wenn er merkte, dass Urteile nicht verstanden wurden, etwa weil interessengeleitete Zusammenfassungen kursierten.

Im Gericht galt Voßkuhle als guter Moderator. In seinem Zweiten Senat, der früher zerstritten war, schuf er ein faires und konstruktives Diskus­sionsklima. Seine Abschiedsreden für ausscheidende Richter sind kleine Kunstwerke.

Manchmal wird Voßkuhle als „Deutschlands oberster Richter“ bezeichnet. Aber er hatte in dem achtköpfigen Senat wie alle anderen nur eine Stimme. Auch als Gerichtspräsident musste er seine Kollegen mit Argumenten überzeugen. Das Präsidentenamt brachte vor allem viel Repräsentationspflichten mit sich. Bei Staatsakten saß er neben der Kanzlerin und dem Bundespräsidenten in der ersten Reihe.

Die Verfassungsgerichtsbarkeit sieht Voßkuhle als „Refle­xions­schleife“ des politischen Systems. Während Regierung und Parlamente oft hektisch und umfragengetrieben entscheiden, können die Verfassungsrichter ausgewählte Pro­bleme von allen Seiten beleuchten, lange diskutieren und eine möglichst konsensfähige Lösung finden. Voßkuhle betonte zwar immer, das Gericht entscheide nur nach „Recht und Gesetz“. Man sei vor allem an die bisherige eigene Rechtsprechung gebunden. Er räumt aber auch ein: „Die Entscheidung, die ein Verfassungsgericht trifft, ist nur sehr selten die einzig mögliche.“ Deshalb ist das Bundesverfassungsgericht auch ein durchaus politisches Staatsorgan. Es ist der Reparaturbetrieb, der konsensfähige Lösungen erzwingt, um die Akzeptanz der Demokratie zu sichern.

Die Anmaßung des Bundesverfassungsgerichts, die europäische Politik zu kontrollieren, hat Voßkuhle nicht erfunden

Eine wichtige Rolle des Verfassungsgerichts sah Voßkuhle darin, die Offenheit für neue politische Entwicklungen sicherzustellen. Von ihm stammt die Formel: „Das Bundesverfassungsgericht sichert die Spielräume des Parlaments gegenüber der Exekutive, der Opposition gegenüber der Mehrheit und der außerparlamentarischen Akteure gegenüber der etablierten Politik.“

Sein Spezialgebiet war das Beamtenrecht, wo er eine eher vorsichtige Linie verfolgte. Unter Voßkuhles Federführung lehnte das Gericht 2018 ein Streikrecht für Beamte ab. Zuvor hatte Karlsruhe 2015 allerdings den Gesetzgeber verpflichtet, Beamte nicht von der allgemeinen Lohnentwicklung abzukoppeln.

Als Mann der Mitte wurde Voßkuhle auch zweimal gefragt, ob er Bundespräsident werden wolle, 2012 und 2016. Doch er wollte lieber in Karlsruhe bleiben. Zu Kanzlerin Merkel soll er gesagt haben: „Einen guten Bundespräsidenten finden Sie leichter als einen guten Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts.“

Für die europäische Integration aus tiefem Herzen

Geprägt war Voßkuhles Amtszeit von europarechtlichen Konflikten. Dank immer neuer Klagen von EU-Skeptikern wie Peter Gauweiler (CSU) konnte sich Voßkuhles Zweiter Senat stets mit den großen Fragen der Europapolitik beschäftigten. Anfang Mai beanstandete der Senat dann den billionenschweren Anleiheankauf der EZB und erklärte dabei erstmals ein Urteil des EuGH wegen angeblicher grober methodischer Mängel für unverbindlich. Voßkuhles Amtszeit endete unerwartet krawallig.

Voßkuhle legt allerdings Wert darauf, dass er die europäische Integration aus tiefem Herzen befürwortet. Auch wenn das Bundesverfassungsgericht die EU-Politik kritisch beleuchte, diene dies der europäischen Einigung. „Wer schnell fahren will, braucht eine gute Bremse“, argumentiere Voßkuhle 2012 auf dem Deutschen Juristentag in einer Diskussion mit dem Philosophen Jürgen Habermas. „Nur wenn die Bürger das Vertrauen haben, dass bestimmte Grenzen nicht überschritten werden, sind sie bereit, weitere Integra­tions­schritte hinzunehmen.“

Die Anmaßung des Bundesverfassungsgerichts, die europäische Politik zu kontrollieren, hat Voßkuhle nicht erfunden. In einem Aufsatz von 2009 hat er ihr aber einen theoretischen Überbau verschafft. Das Bundesverfassungsgericht sei Teil eines „europäischen Verfassungsgerichteverbunds“ – neben dem Luxemburger EuGH und dem Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte. Karlsruhe befinde sich dabei „auf Augenhöhe“ mit den europäischen Gerichten.

Zuletzt hat sich ­Voßkuhles Senat vom EuGH aber nicht ganz ernst genommen gefühlt. Daher nun wohl das EZB-Urteil als Schuss vor den Bug der Luxem­burger Kollegen. Selbst in Deutschland wurde das überwiegend als gefährliche Eskala­tion wahrgenommen – in einer Zeit, in der osteuropäische Staaten wie Polen und Ungarn offen die Autorität des EuGH ­anzweifeln.

Wie wird sich das Bundesverfassungsgericht in der Zeit nach Voßkuhle positionieren? Im Zweiten Senat wurde Vosskuhle durch die Rechtsprofessorin Astrid Wallrabenstein ersetzt. Sie war von den europa­freundlichen Grünen nominiert worden. Voßkuhles wichtigster Partner in EU-Fragen, der Konservative Peter M. Huber, scheidet in zwei Jahren ebenfalls aus. Der bereits gewählte neue Präsident, Stephan Harbarth, ist Vorsitzender des Ersten Senats und war deshalb an dem langen Rechststreit über die EZB gar nicht beteiligt. Gut möglich, dass die Zeiten enden, in denen das Gericht einen großen Teil seiner Zeit auf die Kontrolle von EU-Politik verwandte. Dann wäre die Ära Voßkuhle wirklich zu Ende.

Am 22. Juni wird er seine Entlassungsurkunde erhalten. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird sie ihm in einer kleinen Zeremonie überreichen. Dann kehrt Andreas Voßkuhle als Rechtsprofessor an die Universität Freiburg zurück.

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