Kinder büffeln für ihre Eltern

DOKU Wie „Das Jahr der Entscheidung“ Viertklässler anstrengt, zeigt die ZDF-Reihe „37°“ (22.15 Uhr)

Die Hauptschule wird überall als Unort empfunden, als Tor zu Hartz IV – auch wenn das so offen kaum jemand zugibt

Die kleine Anna liegt in ihrem Bett und sagt entschuldigend: „Wenn ich sehr müde bin, kann ich schon um halb neun nicht mehr denken!“ Auch ihre Mutter vertraut sich der Kamera an: „Ich übe schon Druck aus. Sie weint halt dann manchmal. Aber das ist nicht jedes Mal so.“

Man muss Mitleid mit Anna haben. Weil ihre Mutter die Viertklässlerin triezt und schleift, der hundemüden Tochter statt eines Gute-Nacht-Kusses ein Heft in die Hand drückt. Anna soll ja aufs Gymnasium und am nächsten Tag steht wieder ein Test an.

Dass Anna und ihre Mutter leider kein Einzelfall sind, zeigt die 37°-Reportage „Das Jahr der Entscheidung“, die im Rahmen des Schulthemenschwerpunkts „Klasse 09“ läuft, sehr, sehr eindrucksvoll. Das Filmteam um Maike Conway hat ein Jahr lang vier Grundschüler – drei Mädchen und einen Jungen – aus München und Umgebung begleitet, um den Druck und Stress zu dokumentieren, dem die Kinder im vierten Schuljahr ausgesetzt sind: ihrem eigenen, dem ihrer Eltern, der Lehrer, der Mitschüler, der Gesellschaft.

Conway hat in Bayern gedreht, weil dort die Dreiteilung des Schulsystems in Haupt- und Realschule sowie Gymnasium nach wie vor sakrosankt, die Durchlässigkeit des Systems gering, die Gesamtschule im Entwicklungsstadium ist.

Mit den ausgewählten Schulen in München-Giesing, Vaterstetten und Erding wollte die Autorin wohl einen Gegensatz konstruieren – der allerdings unsinnig wirkt, nicht funktioniert. Denn sowohl im reichen Münchner Vorort Vaterstetten, in der prosperierenden Provinzstadt Erding („einer eher ländlichen Gegend, in der es früher normal war, die Hauptschule zu besuchen und ein Handwerk zu erlernen“) als auch im „ehemaligen Arbeiterviertel“ Giesing, in das heute immer mehr durchaus solvente Familien mit Kindern ziehen, versuchen die Eltern, ihre Kinder vor der Hauptschule zu bewahren. Diese wird überall als Unort empfunden, als Tor zu Hartz IV. Das sagt so explizit im Film natürlich niemand. Außer die Mutter des kleinen Noah aus Giesing, die „an der Hauptschule schwierig findet, dass viele Kinder in so einem schwierigen Umfeld leben“. Noah, ein durchweg sympathisches Bürschchen, gießt in der darauffolgenden Einstellung die Blumen auf der Dachterrasse der Familie. Ein schickes Umfeld, ganz weit weg von der Hauptschule.DOMINIK SCHOTTNER