taz🐾thema
: kulturrausch

die verlagsseiten der taz

Applaus gibt es nur mit der Lichthupe

Was wird aus den Klassikfestivals im Sommer? Unter Einhaltung bestimmter Regeln dürften zumindest Open-Air-Konzerte mit weniger als 100 Teilnehmern in vielen Bundesländern bald wieder erlaubt sein

Bläser müssen mindestens zwei Meter voneinander Abstand halten, idealerweise plus Spuckschutz aus Plexiglas Foto: Frank Sorge/imago

Von Ansgar Warner

Über 200 Klassikfestivals gibt es in Deutschland, so hätte man noch vor drei Monaten diesen Artikel beginnen können. Nun muss man in der Vergangenheitsform schreiben: Über 200 Klassikfestivals gab es früher mal in Deutschland. Der Festivalsommer 2020 findet schließlich unter Pandemiebedingungen statt, soweit er überhaupt stattfindet, denn Großveranstaltungen sind bis mindestens 31. August bundesweit nicht erlaubt. Das Einzige, was noch passiert, ist erst mal ein großes Streichkonzert: Leipziger Bach-Fest? Gecancelt. Mozart-Fest in Würzburg? Abgesagt. Bayreuther Festspiele? Sorry, dieses Jahr nicht mehr.

In der Not wächst aber bekanntlich auch das Rettende. Parallel zum Lockdown der Klassikkulturwelt begann die Suche nach Alternativen, auch sehr praktisch. Schon im März startete die Zeit der experimentellen Kammerkonzerte im kleinen Rahmen: Musik-Flashmobs spielten Beethovens „Ode an die Freude“ vom Balkon, prominente Pianisten wie Igor Levit luden ihre Twitter- oder Facebook-Follower zu live gestreamten Hauskonzerten ins Wohnzimmer.

Mittlerweile wurden auch völlig neue Formen ausprobiert, etwa 1-zu-1-Konzerte, so geschehen zum Beispiel in der Wartehalle des ohnehin verwaisten Flughafen Stuttgart, wo die Staatsoper Stuttgart und das SWR-Symphonieorchesters seit Anfang Mai für jeden Gig jeweils einen Besucher und sechs Meter entfernt davon einen Musiker platzierten.

Derweil machen sich die Veranstalter Gedanken darüber, welche Veranstaltungsformate im Sommer unter leicht gelockerten Bedingungen funktionieren könnten, immer unter Einhaltung von Abstands- und Hygieneregeln, versteht sich. Etwa beim Schleswig-Holstein-Musikfestival (SHMF). Intendant Christian Kuhnt: „Ein Festival wie das SHMF wird sich von einem Virus nicht davon abhalten lassen, Musik zu den Menschen zu bringen.“ Stattdessen ist nun ein „Sommer der Möglichkeiten“ geplant, mit ausgewählten Konzerten in besonderen Formaten. Mehr ist leider noch nicht bekannt.

Zumindest Open Air und mit weniger als 100 Teilnehmern dürfte in vielen Bundesländern aber bis dahin wieder erlaubt sein. Immerhin einige InhaberInnen von Tickets für ausgefallene Events würden somit gleichwertigen Ersatz erhalten, und müssten sich nicht überlegen, ob sie ihre Karten aus Solidarität einfach verfallen lassen oder doch umtauschen.

Bei vielen Festivals und Projekten lohnt es sich auch aus diesem Grund, genauer hinzuschauen und regelmäßig die jeweilige Webseite anzusteuern: so ist etwa ein Großteil der Veranstaltungen des Bonner Beethovenjahres („BTHVN2020“) zwar vorerst abgesagt worden, soll aber erklärtermaßen nachgeholt werden – das Programm wurde jetzt bis September 2021 verlängert. Das „Abschlusskonzert“ am 17. Dezember 2020 mit Daniel Barenboim und dem West-Eastern Divan Orchester wird so -- wenn es denn stattfindet -- zum Auftakt zur zweiten, inhaltlich hoffentlich größeren Hälfte des Beethovenjahres. Außerdem gibt es schon jetzt eine Reihe von regelmäßigen digitalen Events, etwa die Beethoven Lounge des Beethoven-Orchesters Bonn oder die Streaming-Serie „250 piano pieces for Beethoven“ von und mit Pianistin Susanne Kessel.

Wie man Klassik schon jetzt wieder vor Zuschauern spielen kann, zeigt derweil Drive & Live im nordrhein-westfälischen Borken: Dort wird seit Mitte Mai Klassik live von der Lkw-Bühne gespielt, die Zuschauer sitzen à la Autokino in ihren blechernen Karossen und hören die Klänge über eine UKW-Frequenz im Autoradio. Mit dabei in der vorerst bis Juli laufenden Veranstaltungsreihe sind etwa die Pianisten Martin Stadtfeld und Justus Franz, Geiger Christian Tetzlaff, aber auch ein gemischtes Expeditionskorps von Wiener und Berliner Philharmonikern. Applaus spendet das Publikum in diesem Fall übrigens mit der Lichthupe.

Sie gelten als weltweit bedeutendstes Festival für Oper, Musik und Schauspiel: die Salzburger Festspiele. Im Jahr 2020 sollte ihr 100. Jubiläum feierlich begangen werden, was nun aber wegen der Pandemie nicht so möglich ist wie geplant. Stattdessen setzen die Veranstalter auf „modifizierte Festspiele“, das Programm soll im Juni veröffentlicht werden, www.salzburgerfestspiele.at.

Musik ist zum Glück wohl auch außerhalb von Fahrgastzellen gar nicht so riskant wie man meinen könnte, zeigte in diesen Tagen eine aktuelle Studie der Berliner Charité – nicht einmal für die Musiker selbst. Den neuesten epidemiologischen Erkenntnissen zufolge könnte bei Streichern nämlich der normale Abstand von 1,50 Meter ausreichen, bei Bläsern dagegen sollten es mindestens zwei Meter sein, idealerweise plus Spuckschutz aus Plexiglas. Vor allem aber unterstreichen die Wissenschaftler des Berliner Universitätsklinikums die gesundheitlich positiven Effekte von Musik – sie verordnen der Republik quasi als Rezept die Wiederaufnahme des Kulturbetriebs.

Und was ist mit den Zuschauern? „Musikmedizinische“ Verhaltensregeln für den Publikumsraum hat unlängst die Deutsche Orchestervereinigung herausposaunt: man solle Konzerte auf eine Stunde ohne Pause verkürzen, Sitzplätze nur per Online-Buchung vergeben und mit großem Abstand anordnen, auf Garderoben verzichten, und den Veranstaltungsort inklusive Toiletten nach jeder Vorstellung desinfizieren.

In vielen Fällen wird es ein reduzierte Mischkost sein, wie sie jetzt die Greifswalder Bach-Woche anbietet: Das Festival wurde auf zwei Tage verkürzt, es gibt nur eine einzige Live-Veranstaltung mit Zuschauern, dafür aber viele „Geisterkonzerte“ ohne Publikum, die live ins Web übertragen werden.

Am Ende sind es vielleicht die Österreicher, die als Erste wieder ein größeres Offline-Festival unter Corona-Bedingungen erleben dürfen: Die berühmten Salzburger Festspiele wurden bisher als einzige Megaveranstaltung im deutschsprachigen Raum noch nicht abgesagt. So könnte dann vielleicht doch Operndiva Anna Netrebko Puccinis „Tosca“ singen, Stardirigent Teodor Currentzis Mozarts „Don Giovanni“ präsentieren, und mit Joana Mallwitz erstmals eine Dirigentin die „Zauberflöte“. In Österreich sind ab 1. Juli jedenfalls Veranstaltungen bis zu 250 Personen erlaubt, und die Salzburger verkündeten nun, dass die Festspiele in „abgespeckter Form“ stattfinden sollen. Abgesagt wurden dagegen die Bregenzer Festspiele – zum ersten Mal seit 1946.