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: Früher haben sich die Spinner wenigstens noch Mühe gegeben

So, Kinder, die Zeit, als wir wegen Corona alle nett zueinander waren und uns vernünftig benommen haben, ist vorbei. Ab sofort ist jeder sich selbst der Nächste. Versucht erst mal, sich mit „Hoppla, jetzt komm ich“-Attitüde an lästigen Wartenden vorbei in den Supermarkt hineinzudrängeln. Und schüttelt verständnislos den Kopf, wenn er von einem dieser neuen Supermarkt-Türsteher wieder hinauskomplementiert wird.

In den Medien ist in den letzten Wochen viel darüber spekuliert worden, was die Verschwörungsschwurbler motiviert, die plötzlich aus den Gullys kommen. Ist es die Komplexität dieser Welt? Die mangelnde Bildung? Soziale Deklassierung?

Ich hätte da eine andere Erklärung: Wohlstandsverwahrlosung. Diesen Leuten geht es einfach viel zu gut. Wer Zeit hat, das Gefasel von Geistesriesen wie Attila Hildmann zu dekodieren und viralen WhatsApp-Sprachnachrichten hinterher zu recherchieren, hätte sich besser eine sinnvolle Beschäftigung für die Zeit von Kurzarbeitergeld und Homeoffice gesucht. Dabei ist für das, was einem heute so geboten wird, sogar das Wort „Verschwörungstheorie“ noch ein Kompliment. Früher haben sich die Spinner wenigstens noch Mühe gegeben, um mit Tausenden irren Details zu beweisen, dass die Mondlandung nicht stattgefunden hat. Inzwischen reichen ein paar abstruse Behauptungen als Clickbait. Aber die mangelnde Abwechslung der letzten Wochen scheint vielen ihre innere Leere so deutlich gemacht zu haben, dass jedes Sinnstiftungsangebot und jede Ablenkung dankbar angenommen werden.

Besser noch, als sich Unfug im Internet zusammenzuklicken, ist es freilich, sich mit ein paar anderen Zauseln im öffentlichen Raum zusammenzurotten und sich zum Volk zu erklären. Vielleicht kriegt man ja sogar noch ein Mikrofon hingehalten, in das man seine neuesten Telegram-Einsichten hineinerzählen kann.

Auf dem Weg zum Alexanderplatz am Samstag finde ich mich in Gesellschaft der „erlebnisorientierten Jugendlichen“ wieder, die früher am 1. Mai in Kreuzberg Randale gemacht haben. Frohe Erwartungshaltung, Sonnenbrillen und Palästinensertuch, das man sich schnell über die Nase ziehen kann, wenn es kracht.

Doch dazu kommt es nicht. Es gibt zwar genug von den Orks mit Pappschildern und Transparenten, die man noch von den sogenannten Friedensdemos anno 2014 kennt. Aber weil der halbe Alexanderplatz abgesperrt ist, entsteht keine kritische Masse derer, die sich von „Frau Merkel“ nicht ihr grundgesetzlich verbrieftes Recht nehmen lassen, anderen ins Gesicht zu husten. Die Wiedereröffnung von Shopping Malls und Biergärten hat ihre Wirkung nicht verfehlt: Man kann sich wieder anders beschäftigen, als auf dem Alex herumzustänkern.

Aber wo sind die Linksradikalen, die bei diesen Veranstaltungen angeblich zusammen mit Nazis „die Verunsicherung der Menschen instrumentalisieren“? Ich finde nur ein paar Punks bei einer Gegenkundgebung auf der anderen Seite der Karl-Liebknecht-Straße. Sie sind offensichtlich hoch erfreut, dass sie sich direkt unter der Nase der Polizei vermummen dürfen.

Dann ist da noch eine „Freiheitsparty“, bei der ein paar verzweifelt fröhliche Verstrahlte herumhüpfen. Leider ist die Musik nicht schlecht, und die Leute sehen so aus wie die Figuren einst von den illegalen Open-Air-Raves im Grünen.

Egal. Wer sich hier aufhält, verliert seine Würde. Auf dem Heimweg finde ich bei denn’s im Regal den Brotaufstrich „Nutwave“ von Attila Hildmann. Dazu ein Fähnchen: „Aus der Region.“ Anders als Kaufland und Vitalis, die den Kram des frischgebackenen Aluhuts aus dem Sortiment entfernt haben, achtet denn’s nur auf Bio-Qualität, nicht auf den toxischen Irrsinn seines Produzenten. Der Nachholtermin für das Xavier-Naidoo-Konzert in der Spandauer Zitadelle ist übrigens der 1. August 2021. Tilman Baumgärtel