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: Wir vermeiden Zischlaute und den Kontaktsport Schach

Vom Balkon aus schau ich auf die Kirche und die Kirchenstammgäste, die die Bank vor der Kirche besuchen. Manchmal sind es zwei, die dort mit Abstand sitzen, manchmal nur eine Person. Regelmäßig kommt auch ein junger Skater mit Wuschelhaaren vorbei. Ich beobachte alles mit permanenten Schmerzen – meine Krankheit dauert schon ein bisschen länger als Corona, aber ich bin schon ein bisschen ­weiter aufgerückt in der Warteschleife; die Radiologie teilte jedenfalls mit, dass sie die Ergebnisse der letzten Untersuchung zumindest schon weggeschickt hat. Egal.

Am Samstag hatte es einen Polizeieinsatz gegeben mit zehn Polizisten in voller Montur, die in die Kirche reingegangen waren. Es hatte weder Krach noch Geschrei gegeben. Keine Ahnung, was los gewesen war. Nach einer Weile verliert man ja auch das Interesse. Vielleicht war was gewesen mit der kleinen Frau, die wie ich seit Jahren hier in ihrem zu großen Anorak herumschlurft. Wir nehmen einander vermutlich wahr als ähnlich Gestörte. Meist gehen wir aneinander vorbei; manchmal grüße ich sie, und sie sagt dann: „Wohin gehst du“ und ich antworte „Zur Kirche“, denn da wohn ich ja gleich. Dann gehen wir wieder unserer Wege.

Auf dem Weg zu M. begegnet mir der andere Freak, den ich aus der Bergmannstraße kenne. Dort sitzt er immer auf dem Gehweg und bettelt. Mit seinem runden Gesicht, den Wuschelhaaren und Secondhand-Ökoklamotten sieht er ein bisschen aus wie ein freundlicher Hobbit, hat aber ein sehr bleiches Gesicht. Er spricht mich an und sagt, „Ich heiße übrigens Felix.“ Ich gebe ihm 70 Cent.

Richtig Lust auf die Bundesliga habe ich nicht. Mir gefällt aber der Gedanke, dass die kritisierten Berufsfußballer vor allem doch eigentlich für die vielen alten, kranken Männer spielen, die ohne Fußball Sinn und Orientierung verloren haben. Ich habe einen Ventilator mitgebracht – Drosten hatte ja gesagt, man solle in Innenräumen Ventilatoren verwenden, die die Luft nach draussen pusten.

M. will das aber nicht. So reiß ich nur die Fenster auf und mache Orange-Ingwer-Tee. Dann sitzen wir zwei Meter voneinander entfernt vor dem Fernseher mit der Bundesligakonferenz und rauchen. So richtig Anteil nehmen wir nicht am Geschehen, aber der Sound ist eigentlich ganz schön. M. denkt an Spiele des FC Zweibrücken aus den 1960er Jahren, ich erinnere mich an die Spiele von Eintracht Segeberg in den 1970er Jahren. Schalke verliert wieder 0:4, um seinem Namen alle Ehre zu machen. Die anderen Ergebnisse vergess ich sofort wieder.

Weil ich eingangs erklärt hatte, dass Reden in geschlossenen Räumen gefährlich ist, unterhalten wir uns kaum, und wenn wir mal was sagen, vermeiden wir Zischlaute und als er nach der Bundesligakonferenz fragt, ob ich noch Lust auf Schach habe, lehne ich ab, weil Schach Kontaktsport ist.

Ein bisschen bedrückt gehe ich wieder nach Hause. Auf den ersten Blick sieht alles eigentlich normal aus. Wobei „normal“ ja eigentlich gestern ist. Die Masken, die Radfahrer tragen, kommen einem jedenfalls überflüssig vor. Nur die älteren Türken, die mit Maske unterwegs sind, erinnern an den Ernst der Lage. Und wo man früher beim Vorbeigehen noch genervt gedacht hatte Teufel Alkohol, denkt man heute emphatisch Risikogruppe.

Am Ufer des Landwehrkanals sehe ich ein Tütchen mit weißem Pulver auf dem Boden liegen. Ich bleibe kurz zögernd stehen und gucke, ob niemand guckt. Früher hätte ich es sofort mitgenommen; nun lass ich es liegen. Detlef Kuhlbrodt