Mouctar D. über Leben im Lager: „Sie zerbrechen deine Träume“

Seit 15 Monaten lebt Mouctar D. in der Erstaufnahme des Landes Bremen. Im Interview erzählt er, warum er diese nur als eine Hölle bezeichnen kann

Demonstrierende stehen Mitte April auf den Treppen des Bremer Doms und halten Transparente:Sie fordern die Schließung der Sammelunterkunft Lindenstraße und erinnern daran, dass nicht jede*r ein zu Hause hat.

An der Demo Mitte April konnte Mouctar D. wegen Quarantäne nicht teilnehmen Foto: Hannes von der Fecht

taz: Herr D., was bedeutet es, Ramadan in der Lindenstraße zu begehen?

Mouctar D.: Das ist eine Katastrophe. Einmal lebst du da ja nicht alleine, sondern mit sehr vielen Menschen zusammen. Eine Intimsphäre gibt es da nicht. Außerdem ist das Essen wirklich nicht gut.

Warum ist das im Ramadan wichtiger als sonst?

Für uns Muslime ist das ein heiliger Monat. Du darfst in dem ganzen Monat keine Dummheiten begehen, die Gebete sind besonders wichtig und du musst die Fastenregeln einhalten. Wenn du mit vielen Leuten zusammen bist, von denen viele nicht fasten, wenn du dir zum Beispiel mit Nichtmuslimen das Zimmer teilen musst, oder sie auch nur direkt nebenan wohnen, dann ist das sehr schwierig.

Warum?

Naja, die Wände zwischen den Zimmern reichen oben nicht an die Decke.

Die Lindenstraße hat 200 Räume und ist laut Bremens Sozialsenatorin damit für 750 Menschen geeignet.

Anfang März war die Einrichtung nahe der Maximalbelegung. Mittlerweile sind nur noch rund 300 Menschen dort untergebracht.

Mit dem Corona-Virus haben sich bisher 170 der Bewohner*innen infiziert. Elf von ihnen liegen im Krankenhaus. 100 gelten als genesen. Durch Demos und Kundgebungen hatten die BewohnerInnen frühzeitig auf die Gefahr aufmerksam gemacht.

Das sind nur so Raumteiler?

Ja, provisorische Wände: Man hört also immer, was im Nachbarraum passiert. Und wenn du beten willst – fünfmal am Tag – und direkt dabei sind Leute, die Musik hören, oder sich streiten: Das nervt, beide Seiten natürlich. Wir haben uns das ja alle nicht ausgesucht, da zu leben und gemeinsam dort zu leben. Wir sind gezwungenermaßen dort zusammen. Das macht einen total fertig.

Sie erleben ja schon den zweiten Ramadan dort: Vergangenes Jahr war die Belegdichte viel höher. War das schlimmer?

Natürlich war das schlimmer, was das Wohnen angeht und die Betzeiten. Es waren sehr viel mehr Leute im Lager. Aber damals gab es wenigstens dann das Fastenbrechen in der Moschee: Da sind diejenigen aus der Lindenstraße dann gemeinsam hingegangen, die den Ramadan feiern. Und dort konnten wir dann auch essen. Denn das, was uns von offizieller Seite ins Lager gebracht wird, das ist einfach nur ekelhaft. Reis, der nicht richtig gegart ist, Kartoffeln, die noch nicht durch sind, Hühnerfleisch, das riecht, als wäre es schon drüber …

Hat sich das nicht gebessert?

Nein: Das ist echt ungenießbar. Ich weiß gar nicht, wie man auf die Idee kommen kann, eine solche Nahrung menschlichen Wesen zuzumuten. Zum Glück kochen Freunde von „Together We Are Bremen“ in der Stadt für uns und bringen es in die Einrichtung. Wenn die das nicht machen würden, keine Ahnung, was ich dann machen würde. Ich habe noch nie während des Ramadan in dem Lager gegessen.

Sie sind nicht der einzige Bewohner, der fastet: Hat sich der Caterer denn gar nicht darauf eingestellt?

Nein, gar nicht. Die Leute, die fasten, bekommen dasselbe wie die Leute, die den Ramadan nicht begehen. Finde ich unerklärlich.

Das allabendliche Fastenbrechen ist ein Fest …

Das sollte es sein. Und ich finde, das sollte respektiert werden. Das ist eine Tradition, die heilig ist. Natürlich hast du großen Hunger, wenn du den ganzen Tag nichts gegessen hast. Klar, vergangenes Jahr, in der Moschee, da gab es dann abends auch viel zu essen. Aber hier: Allein diesen Fraß nur anzuschauen erregt Brechreiz. Puh.

Sie sind gerade aus der Quarantäne entlassen worden. Wie waren Sie da reingekommen?

Anfangs hatten wir ja demonstriert, weil wir Angst hatten vor der Pandemie.

Das war sehr früh, noch bevor es mit den anderen staatlichen Maßnahmen richtig losging: Warum war Ihnen klar, dass Corona ein Problem sein würde in der Lindenstraße?

Jeder, der es hätte sehen wollen, hätte das sehen müssen, auch die Gesundheitssenatorin und die Sozialsenatorin Frau Stahmann: Einerseits hatten alle mitgekriegt, wie schnell sich die Epidemie in China ausgebreitet hatte. Und: Wir sind da in einer Unterkunft mit sehr vielen Leuten untergebracht. Wir haben auf einem Flur Toiletten und Duschräume, die wir gemeinsam nutzen müssen. Die Zimmer sind nicht richtig voneinander abgetrennt, die Luft zirkuliert in der Einrichtung – und Durchlüften ist nicht möglich. Schon damals war davon die Rede, dass sich das Virus mehrere Stunden, drei oder fünf, in der Luft hält. Wie hätten wir uns da nicht infizieren sollen? Zumal eben einfach weiterhin Leute von außen ins Lager reingesetzt worden sind. Es ist wirklich kein Wunder, dass das Virus dort so sehr gewütet hat wie sonst nirgends in der Stadt.

Mouctar D. ist Anfang 2019 in Bremen angekommen. Zunächst war er in Habenhausen einquartiert. Am 1. März 2019 wurde er in die Erstaufnahmeeinrichtung Lindenstraße verlegt. D. ist in Guinea geboren und aufgewachsen. Seine Erstsprache ist Loma. Das Gespräch fand auf Französisch statt.

Ja, 170 Infizierte, rund zehn Prozent aller gemeldeten des Landes – für den Senat kam das unerwartet?

Nein. Allen war klar, was hier passieren würde. Wir haben uns fast alle angesteckt. Ich war einer der ersten, die in Quarantäne gekommen sind, 14 Tage lang. Zum Glück habe ich keinerlei Symptome entwickelt: Ich bin gesund. Aber ich sitze immer noch in der Lindenstraße.

Wie die anderen auch?

Nein, auch das ist seltsam: Zu Beginn der Quarantäne waren wir zu viert im Zimmer. Einer von uns ist nach Magdeburg verlegt worden, ein anderer nach Gröpelingen. Wir zwei müssen hier bleiben, immer noch, und ehrlich gesagt ärgert mich das auch ein bisschen: Ich habe eine ganze Reihe von Freunden, die hier innerhalb von Bremen ein anderes Quartier bekommen haben mittlerweile. Ich nicht. Dabei bin ich schon lange hier. Und meine Quarantäne war Ende vergangene Woche vorbei. Wenn ich das den Leuten von der Awo sage, heißt es natürlich nur, wir sind nicht zuständig, ich müsse mich halt gedulden, vielleicht käme ich morgen dran oder am Montag. Und das ist es dann.

Sie kommen nicht weiter?

Nein, gar nicht: Ich soll das einfach aushalten. Das ist echt hart.

Ist denn das Gebäude selbst ein Problem, oder wird es jetzt alles gut, wenn nur noch 250 Menschen dort leben?

Dieses Gebäude ist niemals dafür gedacht gewesen, Menschen zu beherbergen, da bin ich ganz sicher: Die Fenster sind dicht, durchlüften ist völlig unmöglich, Trinkwasser müssen wir von den Klowaschbecken holen, das funktioniert vielleicht für Büros oder als Behelf – aber zum Leben? Das ist hier echt scheiße, entschuldigen Sie bitte den Ausdruck, es macht dich völlig fertig. Diese Lindenstraße ist eine Hölle.

Das ist ein hartes Wort.

Ja, aber ich habe kein anderes. Ich habe auf meinem Weg hierher wirklich heftige Dinge erlebt. Ich komme aus Guinea, ich habe zu Fuß die Wüste durchquert, ich habe Sachen gesehen, die kann ich nicht schildern. Es tut einfach noch zu weh. Aber hierher kommen und dann – ich kann das schwer erklären. Es gibt schwangere Frauen und Mütter mit kleinen Babys dort, ein paar Wochen alt nur. Die müssen da leben, beengt, wie in einer Sardinenbüchse. Was soll das? Warum macht man das mit uns? Das ist nicht gut. Es ist nicht gut. Es ist nicht gut, menschliche Wesen so zu behandeln auf diese Weise. Es ist …

Sollen wir eine Pause machen …?

Nein, lass uns weitermachen, entschuldigen Sie. Ich bin … Und jetzt stellen Sie sich vor: 15 Monate an diesem Ort, ein Raum, den du mit anderen teilen musst, aber kein eigenes Zimmer, keine Privatsphäre, keine Luft zum Atmen, das ist doch nicht normal.

Aber es hat nur eine kleine Gruppe dagegen protestiert?

Nein, das stimmt nicht. Es waren nicht alle Bewohner*innen, ein paar haben sich nicht getraut, und an den Demonstrationen durften nachher ohnehin nur ein paar teilnehmen. Aber die meisten wollten.

Was heißt „ein paar haben sich nicht getraut“?

Sie haben Angst vor Repression: Wer in der Lindenstraße lebt, hat keine Rechte. Meinungsfreiheit gibt es dort nicht. Wenn du mit einem Mitarbeiter oder einer Wache streitest, dann drohen Sie dir mit Verlegung – entweder in ein anderes Lager in Bremen, oder in irgendein anderes Bundesland.

Verlegung aus der Hölle ist ja keine Drohung?

Raus aus Bremen wäre schon eine Drohung: Bremen ist eine gastliche Stadt. Es gibt viele Menschen hier, die offen sind für Immigrant*innen. Du kommst nach Bremen, weil das bekannt ist, und weil du weißt, hier wäre das möglich, was du vorhast. Wir kommen ja hierher mit unseren Hoffnungen, unseren Plänen und Zielen. Du möchtest ja etwas aus dir machen. Aber sie zerbrechen deine Träume.

Mit welchen Träumen sind Sie von Guinea aufgebrochen?

Ich wollte auf die Schule gehen, das war zu Hause nicht möglich, weil meine Mutter nicht reich genug war, um die Ausbildung zu bezahlen. Ich hatte auch davon geträumt, Fußballer zu werden. Das war es: Bildung und Fußball. Und eine gute Arbeit. Deshalb habe ich mein Land verlassen. Aber jetzt, hier – verstehe ich mein Leben nicht mehr.

Sie hängen fest?

Das trifft es. Ich bin jetzt seit über einem Jahr da in der Lindenstraße, seit 15 Monaten. Ich weiß noch immer nicht, ob man mich hier in Bremen leben lässt, oder ob ich morgen in eine andere Stadt verlegt werde. Davor habe ich richtig Angst, denn ich kenne jetzt hier so viele Leute. Ich habe Freunde, mein Fußballteam. Ich bin zur Schule gegangen. Ich mache wirklich viel, um mich zu integrieren – es ist, als könnte ich nie genügen. Da ist immer diese Angst in der Magengrube, dass ich morgen den Bescheid kriege, verlegt zu werden, und ich wieder ganz von vorn anfangen muss.

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